Zusammenfassung
Die akute Nierenschädigung (ANS; früher akute Niereninsuffizienz) ist eine plötzliche Verschlechterung der Nierenfunktion innerhalb weniger Stunden bis Tagen, die potenziell reversibel ist. Sie ist gekennzeichnet durch eine rasche Abnahme der glomerulären Filtrationsrate (GFR
Das Leitsymptom der akuten Nierenschädigung ist eine akut reduzierte Harnmenge (Oligurie, Anurie
Diagnostische Kriterien sind ein Anstieg des Serum
Die Therapie erfolgt abhängig von der Ursache und kann Volumenersatz, Diuretika
Epidemiologie
- Eines der häufigsten nephrologischen Krankheitsbilder im Krankenhaus
- Prävalenz auf Intensivstationen bis zu 30%
- Ältere Menschen sind besonders gefährdet aufgrund der häufigen Begleiterkrankungen und einer verminderten Nierenreserve
Ursachen
Die Ursachen für eine akute Nierenschädigung können viele verschiedene Nierenerkrankungen sowie extrarenale Pathologien sein. Diese werden entsprechend ihrer Lokalisation in prä-, intra- und postrenale Erkrankungen eingeteilt. Die wichtigsten Ursachen sind in der folgenden Tabelle aufgelistet.
Prärenale Nierenschädigung (60%) | Intrarenale Nierenschädigung (35%) | Postrenale Nierenschädigung (5%) |
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Verminderte Nierenperfusion → Verminderter glomerulärer Filtrationsdruck | Direkte oder indirekte Nephronschädigung | Abflussbehinderung des Harns → Harnstau bis in die Glomeruli |
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InfoNephrotoxine
Nephrotoxine sind Substanzen, die die Nieren schädigen können, indem sie die Funktion der Nephrone beeinträchtigen, Zellschäden verursachen oder die Nierenstruktur verändern.
- Kontrastmittel (KM): jodhaltige Röntgenkontrastmittel können insbesondere bei großen Infusionsmengen und hoher Osmolarität nierenschädigend wirken
- Nephrotoxische Medikamente
- NSAR
wie Ibuprofen - Bisphosphonate
wie Zoledronat - Antivirale Medikamente wie Aciclovir, Foscarnet oder Tenofovir
- Antimykotika wie Amphotericin B
- Antibiotika
wie Aminoglykoside (z.B. Gentamicin) oder Glykopeptide (z.B. Vancomycin) - Chemotherapeutika
wie Cisplatin oder Methotrexat - Immunsuppressiva
wie Calcineurin-Inhibitoren (z.B. Ciclosporin, Tacrolimus) - Herbizide und Pestizide wie Glyphosat oder Paraquat
- Lösungsmittel
wie Benzol oder Chloroform - Schwermetalle wie Cadmium, Blei, Arsen, Quecksilber
Diagnosekriterien und Schweregrade nach KDIGO
Diagnosekriterien der akuten Nierenschädigung
Die Diagnose einer akuten Nierenschädigung erfolgt anhand der Kriterien der Kidney Disease Improving Global Outcomes (KDIGO
- Serum
-Kreatinin ↑ - Anstieg um ≥0.3 mg/dl innerhalb von 48 Std
- Anstieg auf ≥1.5-fache innerhalb von 7 Tagen
- Urinvolumen↓
- Abnahme auf <0.5 ml/kgKG über 6 Std
- Auswertung: für die Diagnose muss mindestens 1 Kriterium erfüllt sein
Schweregrade
Die Einteilung der Schwere einer akuten Nierenschädigung erfolgt anhand der KDIGO
Grad | Serum | Urinausscheidung |
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Klinik
- Leitsymptome:
- Oligurie
(Urinmenge <500 ml/Tag) bis Anurie (Urinmenge <100 ml/Tag) - Im Verlauf kann es jedoch zu einer Polyurie
(Urinmenge >2.000-5.000 ml/Tag) kommen
- Oligurie
- Symptome der Grunderkrankung:
- Unterschenkelödeme, periorbitale Ödeme
und Jugularvenenstauung bei Herzinsuffizienz/Hypervolämie - Stehende Hautfalten bei Hypovolämie
- Fieber bei entzündlicher oder autoimmuner Genese (z.B. Pyelonephritis, Glomerulonephritis
) - Flankenschmerzen bei post- oder intrarenaler Genese (z.B. Pyelonephritis, Hydronephrose)
- Arthralgien und/oder Myalgien bei Kollagenosen
, Vaskulitis
- Unterschenkelödeme, periorbitale Ödeme
- Urämische Begleitsymptome bei schwerer Nierenschädigung:
- Pruritus (durch die intrakutane Ansammlung harnpflichtiger Substanzen, Toxine)
- Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Schwächegefühl
- Kardiovaskuläre Symptome wie Arrhythmien und erhöhter Blutdruck
- Neurologische Symptome wie kognitive Störungen und Muskelschwäche
Diagnostik
TippBei der Diagnostik einer akuten Nierenschädigung ist die Ermittlung der Ursache entscheidend. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen prärenaler, intrarenaler und postrenaler ANS. Die prärenale und postrenale ANS können oft erfolgreich behandelt werden, indem die Ursache behoben wird, etwa durch Beseitigung von Harnabflussstörungen oder Wiederherstellung der Nierenperfusion.
Anamnese
- Symptome:
- Ödeme
, Veränderungen der Miktion - Urämische Begleitsymptome → Insbesondere Müdigkeit, Schwäche, Übelkeit, Erbrechen, Pruritus und kognitive Störungen (z.B. Verwirrung, Konzentrationsstörungen) als Frühwarnzeichen
- Ödeme
- Medikamente: Diuretika
, Einnahme möglicher nephrotoxischer Medikamente, neue Änderungen der Medikation oder Dosierung - Vorerkrankungen: z.B. akute oder chronische Nierenerkrankungen
, Herzinsuffizienz , Diabetes mellitus , arterielle Hypertonie - Vorangegangene Kontrastmittelbelastungen, Hospitalisierungen oder nierennahen Operationen
- Vorangegangene Infektionen (z.B. Harnwegsinfektionen) oder Traumata
- Flüssigkeitsaufnahme und -verlust: z.B. Durchfall, Erbrechen, Blutungen, zu geringe Flüssigkeitsaufnahme
- Lebensstil: Alkoholkonsum, Drogenmissbrauch oder Exposition gegenüber nephrotoxischen Substanzen
Körperliche Untersuchung
- Vitalparameter:
- Blutdruck (Hypertonie oder Hypotonie)
- Messung der Körpertemperatur
(Fieber z.B. bei Pyelonephritis)
- Inspektion:
- Untersuchung auf Blässe (Hinweis auf eine Anämie
) und Kratzeffloreszenzen der Haut (Hinweis auf Pruritus)
- Untersuchung auf Blässe (Hinweis auf eine Anämie
- Palpation:
- Überprüfung auf Flankenklopfschmerz (z.B. bei Pyelonephritis)
- Beurteilung des Flüssigkeitshaushalts
: - Haut- und Schleimhautüberprüfung:
- Anzeichen von Dehydrierung (stehende Hautfalten, trockene Schleimhäute)
- Untersuchung auf periphere Ödeme
: - Kontrolle von Beinen, Knöcheln und periorbitalem Bereich
- Beurteilung der Jugularvenen: Jugularvenenstauung als Zeichen für eine Rechtsherzinsuffizienz
oder Volumenüberlastung
- Haut- und Schleimhautüberprüfung:
- Untersuchung von Herz, Lunge
und Abdomen - Auskultation des Herzens
zur Identifikation von Herzgeräuschen oder Zeichen einer Herzinsuffizienz → Vermindertes effektiv zirkulierendes Blutvolumen - Bei pulmonaler Stauung: Rasselgeräusche
- Bei Aszites
: Zunahme des Bauchumfangs, undulierende Welle
- Auskultation des Herzens
- Bei Verdacht auf Urämie:
- Durchführen einer orientierenden neurologischen Untersuchung
zur Erkennung einer urämischen Enzephalopathie
- Durchführen einer orientierenden neurologischen Untersuchung
- Bei Verdacht auf Sepsis:
- qSOFA-Score
: Atemfrequenz ≥22/min, systolischer Blutdruck ≤100 mmHg und veränderter Bewusstseinszustand (Glasgow Coma Scale <15)
- qSOFA-Score
Labor
- Serum
-Kreatinin , ggf. Cystatin-C (sensitiver, aber teurer), Harnstoff - Kleines Blutbild
: ggf. Thrombozytopenie als Hinweis auf eine thrombotische Mikroangiopathie (hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS), thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP)) - Elektrolyte: ggf. Hyperkaliämie
- Venöse BGA
: ggf. metabolische Azidose - Kreatinkinase
: Hinweis auf Rhabdomyolyse - LDH
, Erythrozyten : Hinweis auf Hämolyse - Bei Verdacht auf eine Sepsis/infektiöse Genese: ggf. Blutkultur
- Bei Verdacht auf eine rheumatologische Genese (z.B. Vaskulitis, Glomerulonephritis
oder Kollagenose): spezifische Antikörperdiagnostik - Bei Verdacht auf eine thrombotische Mikroangiopathie: Fragmentozyten im Blutausstrich
- U-Status: Hämaturie (Hinweis auf eine intra- oder postrenale Genese), Proteinurie
(Hinweis auf glomeruläre Genese) - Urinsediment
: Hinweise auf entzündliche Genese (Nachweis von z.B. Akanthozyten (= deformierte Erythrozyten ), Erythrozytenzylinder , Leukozytenzylinder ) - Bestimmung von Kreatinin
und Natrium im Urin und Bestimmung der fraktionelle Natriumexkretion (FENa ) zur Differenzierung zwischen intrarenaler vs. prärenaler Genese - Ggf. Urin-Elektrophorese
: Proteinnachweis mit Hinweis auf Ort der Genese
Die Labordiagnostik liefert unmittelbare Hinweise auf die Lokalisation der Ursache:
prärenal | intrarenal | postrenal | |
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Urinfarbe | Normal bis hell | Dunkel | Normal, ggf. trüb (bei Harnstau/Infekten) |
U-Status | I.d.R. unauffällig |
Glomerulär:
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Urinsediment | I.d.R. unauffällig:
| Viele Zellen und Nachweis von Zylindern:
| I.d.R. unauffällig:
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Urin-Elektrophorese | Ggf. ursachenspezifische Proteine:
| Glomerulär:
Tubulär/interstitiell:
| α2-Makroglobulin |
Fraktionelle Natriumexkretion (FENa | FENa | FENa | FENa |
MerkeEine Albuminurie besteht nur bei glomerulären Schäden! → Eine persistierende Proteinurie
ist ein starker Hinweis auf glomeruläre Erkrankungen.
Sonografie
- Indikation: jede akute Nierenschädigung
- Untersuchung der Nieren, Harnblase und Vena cava inferior
: Identifikation einer postrenalen Genese (z.B. Harnstau) und einer möglichen Hypo- oder Hypervolämie anhand des Füllungsstatus der Vena cava inferior
Nierenbiopsie
- Indikation: bei Verdacht auf Glomerulonephritis
AchtungInsbesondere die akut behandlungsbedürftigen Ursachen sollten identifiziert und behandelt werden! Zu diesen gehören eine Minderperfusion der Nieren, eine Vaskulitis, thrombotische Mikroangiopathie, interstitielle oder akute Glomerulonephritis
sowie eine postrenale Obstruktion.
Diagnostisches Vorgehen
Therapie
Kausale Therapie
- Prärenale Genese: Bilanzierung der Ein- und Ausfuhr von Flüssigkeit
- Bei Hypovolämie
: vorsichtige Flüssigkeitssubstitution, ggf. Gabe von Erythrozytenkonzentraten bei relevanter Anämie oder hämorrhagischem Schock , ggf. medikamentöse Kreislaufunterstützung - Bei Hypervolämie (z.B. im Rahmen einer Herzinsuffizienz
): diuretische Therapie mit Schleifendiuretika , meist Furosemid i.v.
- Bei Hypovolämie
InfoKurzfristiger Therapieversuch mit Schleifendiuretika
Schleifendiuretika
steigern zwar die Diurese, haben aber keinen Einfluss auf die glomeruläre Filtration und führen nicht zu einer Verbesserung der Nierenfunktion. Sie können jedoch kurzfristig zum Volumenmanagement eingesetzt werden, um eine drohende Hypervolämie zu verhindern und die Zeit bis zur Erholung der Nierenfunktion zu überbrücken. Bei ausbleibender Steigerung der Diurese und Hypervolämie, sollten die Schleifendiuretika abgesetzt und die Indikation zur Akutdialyse geprüft werden.
- Intrarenale Genese:
- Bei Glomerulonephritis
: abhängig von Biopsiebefund und zugrundeliegender Ursache - Bei bakterieller Infektion (z.B. bei Pyelonephritis): Antibiose
- Bei vaskulären Perfusionsstörungen: ggf. Revaskularisation
- Bei Intoxikation: Hydrierung, ggf. Akutdialyse
- Bei Glomerulonephritis
- Postrenale Genese: Wiederherstellung des Harnabflusses, ggf. perkutanes Nephrostoma
Überprüfung der Indikation für eine Akutdialyse
anhand der Harnausscheidung, der Kreatinin - und Harnstoff -Konzentrationen, des Säure-Basen -Haushaltes sowie der Klinik (Urämie) Achtung
Indikationen der Akutdialyse
Eine Akutdialyse
wird nur eingeleitet, wenn die medikamentöse Therapie nicht hilft. Sie wird in der Regel über einen großlumigen Dialyse-Katheter ohne Anlage eines Shunts durchgeführt. - Therapierefraktäre Anurie
>12 Std - Anstieg des Serum
-Kreatinins >1 mg/dl innerhalb von 24 Std - Therapierefraktärer Serum
-Harnstoff >200 mg/dl - Therapierefraktäre metabolische Azidose
- Elektrolytstörungen (insbesondere Hyperkaliämie
) - Intoxikation mit dialysierbaren Stoffen (z.B. Lithium)
- Therapierefraktäre Hypervolämie (z.B. Lungenödem
mit Atemnot) - Symptomatische Urämie
Merke
Merkhilfe - Indikationen zur Dialyse
: AEIOU (alle Vokale) → Azidose, Elektrolytstörung (Hyperkaliämie ), Intoxikationszeichen, Overload (Volumenüberladung), Urämie - Therapierefraktäre Anurie
- Absetzen oder Vermeiden nephrotoxischer Medikamente
- Nephrotoxische Medikamente (siehe oben): NSAR
(z.B. Ibuprofen ), Zytostatika , Amphotericin B, Aminoglykoside (z.B. Gentamicin), Zoledronat
- Nephrotoxische Medikamente (siehe oben): NSAR
- Absetzen oder Vermeiden von kontraindizierten Medikamenten
- Kontraindikation bei akuter Nierenschädigung: ACE-Hemmer
, AT-1-Rezeptorblocker (Sartane ), Diuretika (Ausnahme siehe oben), Antidiabetika (insbesondere Metformin wird renal eliminiert → Akkumulation mit Gefahr einer Laktatazidose)
- Kontraindikation bei akuter Nierenschädigung: ACE-Hemmer
TippACE-Hemmer
, AT-1-Rezeptorblocker und Diuretika sind nicht direkt nephrotoxisch. Sie können jedoch die GFR weiter reduzieren und sollten daher abgesetzt werden.
Komplikationen
- Urämie
- Volumenüberladung (Lungenödem
, Hirnödem , Herzinsuffizienz ) - Hypertonie
- Elektrolytentgleisungen (Hyperkaliämie)
- Metabolische Azidose
Prognose
- Hohe Mortalitätsrate
- Abhängig vom Schweregrad und der Patient:innenpopulation
- Auf der Intensivstation liegt die Mortalitätsrate zwischen 30-50%
- Oft schlechte Langzeitprognose: viele Patient:innen entwickeln eine chronische Nierenerkrankung
oder erfahren eine Verschlechterung einer bereits bestehenden Nierenerkrankung
Prävention
- Regelmäßige Überwachung von Risikopatient:innen: Patient:innen mit Vorerkrankungen wie Diabetes
, Bluthochdruck oder chronischen Nierenerkrankungen sollten regelmäßig überwacht werden, um Anzeichen einer akuten Nierenschädigung frühzeitig zu erkennen. - Vermeidung nephrotoxischer Medikamente und Kontrastmittel bei bereits bestehender Nierenschädigung
- Dosisanpassung der Medikation bei reduzierter GFR
- Optimale Therapie bei Hypertonie
oder Diabetes - Optimierung der Flüssigkeitszufuhr: Sicherstellen, dass Patient:innen ausreichend hydriert sind, insbesondere vor und nach Operationen oder bei der Verabreichung potentiell nephrotoxischer Substanzen.
Algorithmus: Akute Nierenschädigung
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Quellen
- S2k-Leitlinie Rationelle Labordiagnostik zur Abklärung Akuter Nierenschädigungen und Progredienter Nierenerkrankungen, Deutsche Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin e.V. (DGKL), Deutsche Gesellschaft für Nephrologie e.V. (DGfN)