Zusammenfassung
Deprivation beschreibt den Mangel an wesentlichen Reizen oder Bedürfnissen, sowohl körperlich als auch psychisch, und kann in fünf Formen auftreten:
- Sensorische Deprivation: Eintönige, reizarme Umgebung mit möglichen Störungen des Erlebens und Verhaltens
- Soziale Deprivation: Mangel an menschlicher Interaktion, was Einsamkeit verursachen kann
- Emotionale Deprivation: Fehlende emotionale Zuwendung, oft verbunden mit psychischem Hospitalismus bei langen Krankenhausaufenthalten
- Kognitive Deprivation: Fehlen intellektueller Herausforderungen
- Sprachliche Deprivation: Mangel an sprachlicher Interaktion
Risikofaktoren umfassen fehlende Zuwendung, Trennung von Bezugspersonen, lange Krankenhausaufenthalte und reizarme Umgebungen. Langfristig können Symptome wie Depression, Passivität, Reizbarkeit oder Koordinationsstörungen auftreten. Pflegekräfte sollten solche Symptome erkennen, dokumentieren und analysieren sowie Fachkräfte hinzuziehen. Zur Einschätzung des Deprivationsrisikos können Fragen zu Bewegung, Berührung, kognitiven Herausforderungen und sozialen Kontakten gestellt werden. Bei Risiken ist interdisziplinäre Zusammenarbeit wichtig, um Maßnahmen zu entwickeln und den Alltag der Patient:innen anzupassen.
Die Deprivationsprophylaxe umfasst patientenorientierte Ansprache und Reize in verschiedenen Bereichen:
- Visuell: Gedämpftes Licht
- Haptisch: Gegenstände zum Tasten
- Auditiv: Musik oder Gespräche
- Olfaktorisch und gustatorisch: Gerüche und Geschmack von Lieblingsessen
- Kinästhetisch: Bewegungsübungen
Zusätzlich sollten Patient:innen Aufgaben des Alltags bewältigen, wie Einkaufen, Kochen oder soziale Interaktionen, mit Unterstützung durch Pflegekräfte oder Angehörige.
Definition
Das Wort Deprivation kommt aus dem Lateinischen ('deprivatio') und bedeutet „Beraubung“. Somit kann man darunter einen Zustand der Reizverarmung (eine Verringerung oder das Fehlen von äußeren Reizen, die zu sensorischen Unterforderungen führen können) bzw. den Mangel oder Entzug von wesentlichen körperlichen und psychischen Bedürfnissen verstehen. Demnach gelten Patient:innen als depriviert, wenn die objektiven Lebensumstände, wie z. B. der Gesundheitszustand oder die soziale Eingebundenheit, schlecht sind. Auch die subjektiven Lebensumstände, wie z. B. die Freizeitgestaltung oder zwischenmenschliche Beziehungen, können hierbei eine Rolle spielen.
Einteilung
Es können verschiedene Formen der Deprivation unterschieden werden, wobei die Begriffe der sensorischen, sozialen Deprivation sowie des psychischen Hospitalismus teilweise synonym verwendet werden. Außerdem ist eine klare Abgrenzung nicht möglich, weil die verschiedenen Formen sich gegenseitig bedingen oder sogar ineinander übergehen können. Zum Beispiel kann ein Mangel an sozialen Kontakten (soziale Deprivation) auch zu einem Mangel an Sinneseindrücken (sensorische Deprivation) führen, wenn dadurch weniger Reize aus der Umgebung wahrgenommen werden.
Form | Merkmale |
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Sensorische Deprivation |
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Soziale Deprivation |
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Emotionale Deprivation |
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Kognitive Deprivation |
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Sprachliche Deprivation |
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MerkeSoziale Interaktion ist wichtig, um emotionale Unterstützung, Zugehörigkeit und geistige Anregung zu erfahren. Ein Mangel daran kann zu Einsamkeit, depressiven Verstimmungen und einer Beeinträchtigung der sozialen Fähigkeiten führen.
Risikofaktoren und Ursachen
Deprivationsrisiko einschätzen
InfoStandardisierte Assessments sind bisher noch nicht etabliert.
Um ein Risiko zu erkennen bzw. einschätzen zu können, benötigen Pflegekräfte das nötige Wissen über die Umstände, die zu diesem Zustand geführt haben, wie z. B. mangelnde soziale Unterstützung, eingeschränkte körperliche Aktivität
Pflegekräfte sollten beurteilen können, ob eine mangelnde Bindung zu Bezugspersonen besteht. Zudem sollten sie erkennen, ob positive und anregende Reize reduziert sind. Außerdem sollten sie eine eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit der Patient:innen feststellen können. Anzeichen hierfür könnten beispielsweise eine fehlende Reaktion auf Ansprache, zurückgezogenes Verhalten oder fehlende emotionale Reaktionen sein.
Risikofaktoren erkennen: Bekommen Patient:innen im häuslichen Umfeld genügend soziale und emotionale Unterstützung, um geistig und körperlich aktiv zu bleiben?
Fragen zu verschiedenen Bereichen des Lebens stellen:
- Bewegung: Bewegung ist wichtig für die körperliche und geistige Gesundheit. Bewegen sich Patient:innen selbst genug bzw. fördern Pflegekräfte die Bewegung, indem sie z. B. Bewegungsübungen mit den Patient:innen durchführen?
- Berührung, Geräusche und Gerüche: Erfahren Patient:innen Berührungen bzw. unterschiedliche Reize durch unterschiedliche Temperaturen, Beschaffenheit von Materialien? Nehmen Patient:innen angenehme Geräusche oder bekannte Gerüche wahr?
- Kognitive Herausforderungen: Bekommen Patient:innen die Möglichkeit, aktiv verschiedene komplexe Entscheidungen zu treffen, wie z.B. was sie anziehen möchten oder welche Aktivitäten sie durchführen möchten?
- Soziale Kontakte: Befinden sich Patient:innen in Gesellschaft oder dauernd allein in ihrem Zimmer, führen sie Gespräche mit anderen?
Wenn ein Risiko erkannt wird:
- Bestehenden Tagesablauf hinterfragen: Überlegen Sie, ob zusätzliche Aktivitäten eingebaut werden können, wie z. B. regelmäßige Spaziergänge, soziale Interaktionen, kreative Tätigkeiten (z. B. Malen oder Musizieren) oder kognitive Übungen (z. B. einfache Rätsel oder Gedächtnisübungen)
- Welche und wie viele sensomotorische, kognitive, visuelle, auditive und emotionale Ansprache erhalten Patient:innen?
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit von Pflegekräften, Ärzt:innen, Physiotherapeut:innen und Sozialarbeiter:innen sicherstellen, z. B. durch regelmäßige Teammeetings, gemeinsame Fallbesprechungen oder abgestimmte Therapiepläne
Deprivation in der Theorie: Die Formen
Symptome und Auswirkungen:
Form | Symptome und Auswirkungen |
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Sensorische Deprivation |
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Soziale Deprivation |
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Emotionale Deprivation |
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Kognitive Deprivation |
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Sprachliche Deprivation |
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Maßnahmen zur Prävention:
Form | Präventive Maßnahmen |
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Sensorische Deprivation |
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Soziale Deprivation |
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Emotionale Deprivation |
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Kognitive Deprivation |
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Sprachliche Deprivation |
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Deprivation in der Praxis: Die Risikogruppen
Symptome und Auswirkungen:
Risikogruppe | Symptome und Auswirkungen |
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Kleine Kinder (1-3 Jahre) |
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Ältere Kinder (ab 3 Jahren) |
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Erwachsene |
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Ältere Menschen |
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Sterbende Menschen |
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Weitere Symptome und Auswirkungen:
- Habituation (Gewöhnung): Patient:innen sind fortwährend gleichförmigen Reizen ausgesetzt
- Entweder sind es zu viele Reize, und es findet ein Flooding (Überflutung, eine Reizüberflutung, bei der die Betroffenen keine Kontrolle mehr über die Reize haben) statt, oder es sind zu wenig Reize. Daraus resultiert ein an diese Umstände angepasstes Verhalten.
- Wahrnehmungsstörungen: wie Halluzinationen, Illusionen oder verzerrte Wahrnehmungen von Geräuschen und Farben
- Psychische Störungen: wie Depressionen oder Angststörungen
- Fehlendes Selbstvertrauen: kann in Situationen auftreten, in denen Patient:innen aufgrund von Immobilität, eingeschränkter Kommunikation oder Abhängigkeit von Unterstützung das Gefühl haben, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben
- Verlust von kognitiven, sprachlichen und körperlichen Fähigkeiten: z. B. Verlust der Fähigkeit, komplexe Aufgaben zu planen, Schwierigkeiten beim Formulieren von Sätzen oder Verlust der Gehfähigkeit
- Reizbarkeit
- Koordinations- und Körperbildstörungen: durch länger anhaltende Immobilität, z. B. Schwierigkeiten bei der Feinmotorik oder das Gefühl, den eigenen Körper falsch wahrzunehmen
- Deprivation natürlicher Schutzreflexe: wie dem Hustenreiz z. B. durch zu lange Einsatzzeit eines Tracheostomas
- Bedürfnisse der Patient:innen könnten übersehen werden, da sie nicht auffallen und nichts einfordern, wie z. B. das Bedürfnis nach regelmäßiger Bewegung, Kommunikation oder Schmerzmanagement. Der Umgang mit ihnen wird als weniger belastend erlebt als mit Patient:innen, die z. B. den ganzen Tag rufen.
- Übergewicht
- Hohe Mortalitätsrate
MerkeAuswirkungen bei Kindern
Nicht nur eine längere Trennung von Bezugspersonen kann bei Kindern derartige Symptome hervorrufen, wie z. B. Angst, Rückzug, depressive Verstimmungen oder Aggressivität. Auch eine Vernachlässigung des Kindes kann in jedem Alter zu ähnlich schwerwiegenden Symptomen führen. Dennoch spielt das Alter des Kindes eine große Rolle, in welcher Art und in welchem Ausmaß sich die Störungen entwickeln. Beispielsweise zeigen jüngere Kinder häufig Symptome wie Trennungsängste, während ältere Kinder eher depressive Verstimmungen, Rückzug oder Verhaltensauffälligkeiten, wie Aggressivität, entwickeln. Die schwersten Symptome treten zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr auf, wie z. B. starke Trennungsängste, Entwicklungsverzögerungen, emotionale Labilität und anhaltendes Schreien.
Erhalten die Kinder Zuwendung durch eine Bezugsperson, wie z. B. regelmäßige körperliche Nähe, verbale Zuwendung oder gemeinsames Spielen, können einige Symptome wieder zurückgehen. Meist entwickeln sich aber Spätfolgen, die sich in Störungen des Denkens, Fühlens und Verhaltens äußern, wie z. B. Beziehungsunfähigkeit oder emotionale Stumpfheit. Typische Situationen, in denen sich diese Störungen zeigen, sind Schwierigkeiten beim Aufbau enger sozialer Beziehungen, mangelnde Empathiefähigkeit oder eine generelle Unfähigkeit, Freude und Zuneigung auszudrücken.
Maßnahmen zur Prävention:
MerkeBesonders bedeutsam für die Patient:innen ist die Bezugspflege, da die zuständige Pflegekraft die Bedürfnisse ihrer Patient:innen genau kennt. So können Maßnahmen viel besser und koordinierter gesteuert werden.
Risikogruppe | Präventive Maßnahmen |
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Kinder |
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Erwachsene |
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Ältere Menschen |
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Sterbende Menschen |
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Alle Altersgruppen |
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Quellen
- Al-Abtah et al.: I care Pflege. Georg Thieme Verlag 2020, ISBN: 978-3-132-41828-8
- Deprivation. In: Sprache Stimme Gehör. Georg Thieme Verlag 2010, DOI: 10.1055/s-0030-1254224
- Eckhard, K.: Deprivationsprophylaxe: Definition, Nutzen und Maßnahmen. Medi-Karriere 2023
- Lauber et.al.: Prävention und Rehabilitation. Georg Thieme Verlag 2018, ISBN: 978-3-132-40658-2