Zusammenfassung
Das Thema Ethik ist im Rettungsdienst essenziell. Immer wieder wird das Personal vor schwierige Entscheidungen gestellt. Ein typisches Beispiel: Soll bei einem hochbetagten Menschen mit Kreislaufstillstand ohne schriftlich vorliegende Patientenverfügung eine Reanimation
Fallbeispiel
Fallbeispiel: Patientenwille vs. Lebensrettung
Einsatzmeldung:
RTW und NEF werden zu einer bewusstlosen Person in einem Pflegeheim gerufen.
Situation vor Ort:
Beim Eintreffen des Rettungsdienstes liegt ein 85-jähriger Patient mit fortgeschrittener Demenz bewusstlos im Bett. Die Atmung ist stark verlangsamt und unregelmäßig, peripher ist kein Puls
Die Vitalzeichen sind kritisch:
- SpO₂ 82 %
- RR 75/40 mmHg
- HF 40/min → wenige Sekunden später ist kein Puls
mehr tastbar
Der Patient ist nicht ansprechbar. Es liegt ein Kreislaufstillstand vor – eine Reanimation
Die Pflegekraft berichtet, dass der Patient eine Patientenverfügung hat, in der er ausdrücklich lebensverlängernde Maßnahmen wie Reanimation
Das ethische Dilemma:
Der Notarzt steht nun vor der Entscheidung:
- Option A – Reanimation
beginnen:
Die medizinische Indikation zur Reanimationist klar: Der Patient ist reanimationspflichtig. Eine sofortige Wiederbelebung könnte das Leben retten – möglicherweise mit gutem Outcome. Doch damit würde potenziell gegen den mutmaßlichen Willen des Patienten verstoßen, da dieser laut Aussage der Pflegekraft keine Reanimation wünscht. - Option B – Keine Reanimation
durchführen:
Die Reanimationsmaßnahmen werden unterlassen, da laut Pflegepersonal eine entsprechende Patientenverfügung vorliegt. Doch ohne das schriftliche Dokument besteht Unsicherheit, ob der Wille tatsächlich noch gültig, korrekt interpretiert oder rechtlich verbindlich ist. Eine potenziell reversible Situation würde damit ohne medizinisches Eingreifen hingenommen.
Ethische Fragestellungen:
- Autonomie vs. Fürsorgepflicht: Darf bzw. soll der mutmaßliche Wille ohne schriftliche Verifikation über der Pflicht zur Lebensrettung stehen?
- Rechtssicherheit: Wie ist die Aussage der Pflegekraft rechtlich und ethisch zu bewerten?
- Prognose und Lebensqualität: Wie stark soll die bestehende Demenz und der Allgemeinzustand in die Entscheidung mit einfließen?

Dieses Bild wurde mit der KI-Software DALL·E (OpenAI) erstellt. Es wurde automatisch generiert und dient ausschließlich illustrativen Zwecken.
Zentrale Begriffe
Begriff | Erklärung |
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Dilemma | Ein Dilemma beschreibt eine Zwangslage, in der zwischen zwei gleichwertigen Möglichkeiten gewählt werden muss. |
Ethische Notfallentscheidung | Im Rettungsdienst müssen manche Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden. Dennoch sollten sie ethisch reflektiert sein und moralischen Prinzipien folgen. Das stellt hohe Anforderungen an das Personal: Die ethische Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit sollten ebenso beherrscht werden wie praktische Fertigkeiten, etwa das Legen eines peripheren Zugangs. |
Moral | Unter der Moral werden sämtliche Normen, Werte und Tugenden verstanden, die in einer Gesellschaft gelten. Diese zeigen an, was als richtig und gut betrachtet wird. |
Ethik | Ethik ist das methodische Nachdenken über moralische Werte und Normen. Sie fragt, warum etwas als gut oder schlecht gilt, und wie sich Entscheidungen begründen lassen. Im Rettungsdienst ist es wichtig, ethische Prinzipien regelmäßig zu reflektieren – genauso wie medizinisches Fachwissen. Die Medizinethik befasst sich mit Fragen rund um Krankheit und Gesundheit, etwa bei Gendiagnostik, Organspende, Sterbehilfe oder Schwangerschaftsabbruch. |
Bedeutung ethischer Grundlagen
Ethische Grundlagen sind für das Personal im Gesundheitswesen von zentraler Bedeutung. Die Frage nach dem richtigen Handeln begleitet den Berufsalltag und kann weitreichende Konsequenzen haben. Besonders im Rettungsdienst müssen Entscheidungen oft unter Zeitdruck getroffen werden.
Ethische Urteile dürfen dabei nicht spontan oder intuitiv gefällt werden, sondern müssen wohlüberlegt und systematisch erfolgen. Voraussetzung dafür sind sachliche Informationen über die Patient:innen, die konkrete Situation und den geäußerten oder mutmaßlichen Willen. Nur so lassen sich mögliche Handlungsoptionen gegeneinander abwägen und fundierte Entscheidungen treffen.
Ethische Konflikte im Rettungsdienst
Mitarbeitende im Rettungsdienst sollen sich am Verhaltens- und Ethikkodex orientieren und unethisches Verhalten sowie unethische Verfahren konsequent ablehnen. In der Praxis kann sich der Entscheidungsprozess jedoch als herausfordernd erweisen – insbesondere unter Zeitdruck oder bei unklaren Situationen. Er wird häufig zusätzlich durch äußere Faktoren erschwert.
Typische ethisch komplexe Situationen und begleitende Erschwernisse sind:
Typische Entscheidungssituation | Erschwerende Faktoren |
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Ethisches Argumentieren und Handeln
In der Notfallmedizin helfen zwei Instrumente dabei, ethisch begründete Entscheidungen strukturiert zu treffen:
- Medizinethische Prinzipien nach Beauchamp und Childress
- ETHIK-Schema von Fred Salomon
Medizinethische Prinzipien nach Beauchamp und Childress:
ETHIK-Schema von Fred Salomon:
Fred Salomon, ein deutscher Notfallmediziner und Medizinethiker, entwickelte das ETHIK-Schema als Orientierungshilfe bei ethischen Fragestellungen in der Notfallmedizin.
E | Erster Eindruck |
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T | Team |
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H | Haltung |
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I | Individualität und Willensäußerung |
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K | Kommunikation |
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Übung: Ethisches Argumentieren und Handeln
Als Übung kannst du das Fallbeispiel: Patientenwille vs. Lebensrettung anhand der medizinethischen Prinzipien nach Beauchamp und Childress sowie dem ETHIK-Schema von Fred Salomon analysieren und schauen, wie gut du die Instrumente verstanden hast.
Als kleine Hilfe gibt es noch ein Flussdiagramm zur Entscheidungsfindung:
Analyse nach den medizinethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress
Prinzip der Autonomie:
- Wahrung der Selbstbestimmung: Laut Pflegekraft existiert eine Patientenverfügung, in der der Patient lebensverlängernde Maßnahmen, darunter auch Reanimation
, explizit ablehnt - Problem: Die Verfügung ist nicht auffindbar, sodass die Umsetzung des Willens nicht mit Sicherheit nachvollzogen werden kann → dennoch ist der mutmaßliche Wille zu berücksichtigen
- Abwägung: Die Autonomie des Patienten könnte verletzt werden, wenn trotz seiner erklärten Ablehnung eine Reanimation
eingeleitet wird → ohne schriftlichen Nachweis bleibt jedoch ein Unsicherheitsbereich bestehen
Prinzip der Fürsorge:
- Ziel: Schutz und Wohlergehen des Patienten durch lebensrettende Maßnahmen
- Abwägung: Eine Reanimation
könnte das Leben des Patienten retten → doch bei fortgeschrittener Demenz ist fraglich, ob das Outcome tatsächlich im Sinne des Wohlergehens wäre - Die Belastung durch invasive Maßnahmen könnte im Widerspruch zur Fürsorge stehen
Prinzip des Nicht-Schadens:
- Vermeidung von Schaden: Eine Reanimation
bei einem hochbetagten, dementen Patienten kann zu körperlichem Leid (z.B. Rippenfrakturen, Hypoxieschäden) führen, ohne realistische Aussicht auf Lebensqualität - Abwägung: Wenn der Patient ohnehin keine intensivmedizinische Behandlung wünscht, könnte das Reanimieren als schädigend betrachtet werden → umgekehrt wäre das Nicht-Handeln schädlich, wenn die Patientenverfügung fehlt oder falsch interpretiert wurde
Prinzip der Gerechtigkeit:
- Verteilung medizinischer Ressourcen ist hier nachrangig, aber Gerechtigkeit verlangt, dass Entscheidungen nicht willkürlich getroffen werden → Das bedeutet: gleiche Maßstäbe bei der Beurteilung von Patientenverfügungen, auch wenn sie (noch) nicht schriftlich vorliegen
- Abwägung: Eine ausschließlich verbal übermittelte Verfügung muss ethisch ernst genommen werden, solange keine gegenteiligen Hinweise bestehen
Analyse nach dem ETHIK-Schema von Fred Salomon
E – Erster Eindruck:
- Lage: Akuter Kreislaufstillstand, medizinischer Handlungsdruck
- Konflikt: Lebensrettung vs. Respekt vor (mutmaßlichem) Patientenwillen
- Soziale Lage: Keine Angehörigen erreichbar, Pflegekraft als einzige Auskunftsperson
T – Team:
- Informationsaustausch: Diskussion zwischen Notarzt, Rettungsteam und Pflegekraft
- Rollenklärung: Wer übernimmt Entscheidung und Verantwortung? → Der Notarzt
- Dokumentation: Wichtig wäre eine genaue Dokumentation der Aussagen und Umstände für spätere Nachvollziehbarkeit
H – Haltung:
- Selbstreflexion: Wie sehr beeinflusst das eigene Bedürfnis zu helfen die Entscheidung?
- Akzeptanz des Sterbens: Ist man bereit, den natürlichen Sterbeprozess zuzulassen, wenn dies dem Patientenwillen entspricht?
I – Individualität und Willensäußerung:
- Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens: Demenz im Spätstadium erschwert die aktuelle Willensbildung, aber es gab offenbar eine vorherige bewusste Entscheidung
- Wahrung der Privatsphäre und Menschenwürde: Die Entscheidung sollte der Persönlichkeit des Patienten gerecht werden
K – Kommunikation:
- Pflegekraft: Zentrale Rolle als Informationsquelle → Offen, klar und empathisch kommunizieren
- Team: Transparente Entscheidungsfindung im Team, spätere Aufklärung gegenüber Angehörigen
Zusammenfassende Bewertung
Aus ethischer Sicht spricht viel dafür, den mutmaßlichen Willen des Patienten zu respektieren, auch ohne schriftliches Dokument. Das Prinzip der Autonomie wiegt in diesem Fall schwer. Gleichzeitig besteht eine rechtliche Unsicherheit, die gegen ein vollständiges Unterlassen sprechen könnte.
Ethisch vertretbare Lösung könnte sein:
- Kurzfristige Reanimation
bei gleichzeitigem Versuch, die Verfügung zu verifizieren → dann sofortiger Therapieabbruch bei Bestätigung - Alternativ: Verzicht auf Reanimation
, mit Begründung → klare verbale Übermittlung des Patientenwillens durch Pflegekraft, fortgeschrittene Demenz, fehlende Aussicht auf Lebensqualität
Die endgültige Entscheidung muss in der konkreten Situation auf Basis der Gesamtabwägung und des ärztlichen Ermessens getroffen werden.
Prüfungswissen
Zentrale Begriffe:
- Dilemma: Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen, meist problematischen Optionen
- Ethische Notfallentscheidung:
- Entscheidungen unter Zeitdruck im Rettungsdienst
- Müssen ethisch reflektiert und begründet sein
- Erfordert moralische Urteilskraft und praktische Kompetenz
- Moral:
- Gesamtheit gesellschaftlich geltender Werte, Normen und Tugenden
- Gibt Orientierung
für „richtig“ und „gut“
- Ethik:
- Systematisches Nachdenken über moralische Fragen
- Ziel: begründete Handlungsentscheidungen entwickeln
- In der Medizinethik: Anwendung auf Gesundheitsfragen wie Organspende, Sterbehilfe etc
Bedeutung ethischer Grundlagen:
- Ethische Grundlagen sind zentral für Entscheidungen im Gesundheitswesen
- Frage nach dem richtigen Handeln ist alltäglich und hat teils große Konsequenzen
- Im Rettungsdienst herrscht oft Zeitdruck – Entscheidungen müssen dennoch fundiert sein
- Ethische Urteile dürfen nicht spontan, sondern müssen systematisch getroffen werden
- Voraussetzung: sachliche Informationen zu Patient:innen, Situation und Wille
- Nur so ist eine ethisch begründete Abwägung von Handlungsoptionen möglich
Ethische Konflikte im Rettungsdienst:
- Handlungsgrundlage: Orientierung
am Verhaltens- und Ethikkodex, Ablehnung unethischen Verhaltens - Herausforderung: Ethische Entscheidungen oft unter Zeitdruck, Unsicherheit oder unklarer Informationslage
Typische ethische Konfliktsituationen | Erschwerende Faktoren |
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Ethisches Argumentieren und Handeln:
- Medizinethische Prinzipien nach Beauchamp und Childress
- Autonomie: Selbstbestimmung der Patient:innen wahren (z.B. durch Aufklärung und Respekt vor dem geäußerten Willen)
- Fürsorge: Schutz vor Schaden, aktives Eintreten für Patient:innenrechte
- Nicht-Schaden: Keine unnötige oder schädliche Behandlung (z.B. durch falsche Durchführung, Nachlässigkeit)
- Gerechtigkeit: Gleichbehandlung aller Patient:innen und faire Ressourcenverteilung (z.B. bei MANV)
- ETHIK-Schema von Fred Salomon
- E – Erster Eindruck: Analyse ethischer Konflikte und der Gesamtsituation
- T – Team: Informationsaustausch, Aufgabenverteilung, Ansprechpartner:in klären
- H – Haltung: Eigene Einstellung zu Patient:innen und deren Bedürfnissen reflektieren
- I – Individualität & Wille: Privatsphäre schützen, geäußerten/mutmaßlichen Willen respektieren
- K – Kommunikation: Klar und respektvoll kommunizieren, Schweigepflicht wahren, Störungen beheben
Quellen
- Al-Abtah et al.: I care Pflege. Georg Thieme Verlag 2020, ISBN: 978-3-132-41828-8
- Koch, S. et al.: retten – Notfallsanitäter. Georg Thieme Verlag 2023, ISBN: 978-3-13-242121-9