Zusammenfassung
Aufgrund der besonderen Anatomie der oberen Halswirbel (Okzipitalkondylen, Axis, Atlas) und der signifikant unterschiedlichen anatomischen Umgebung (Nähe zur Schädelbasis, zur A. vertebralis und weiteren Strukturen des Halsbereichs) und damit auch unterschiedlichen operativen Zugangswege, werden die Frakturen der oberen Halswirbelsäule in diesem Kapitel gesondert thematisiert. Unterschieden werden:
- Frakturen der Okzipitalkondylen und Schädelbasis (< 3%)
- Frakturen des Atlas (30%)
- Frakturen des Axisrings
- Frakturen des Dens axis
AchtungUngefähr 1/3 aller relevanten HWS-Frakturen werden in der nativradiologischen Röntgenaufnahme übersehen!
Diagnostik
Anamnese und körperliche Untersuchung
Neben einer gezielten Anamnese des Traumamechanismus und der Risikofaktoren sollte bei der ersten körperlichen Untersuchung vor allem auf äußere Verletzungszeichen, sowie einen HWS-Mittelliniendruckschmerz geachtet werden. Besteht kein Hinweis auf einen gefährlichen Traumamechanismus, kann eine vorsichtigen HWS-Rotation (ca. 45°) nach links und rechts auf Schmerzhaftigkeit überprüft werden. Unerlässlich ist außerdem eine genaue neurologische Untersuchung
Bildgebung
Trotz der meist initial durchgeführten nativradiologischen Bildgebung (Röntgen HWS in 2 Ebenen) sollte man sich bewusst sein, dass diese sehr ungenau ist (Sensitivität

Okzipitalkondylenfraktur (C0)
Okzipitalkondylenfrakturen (C0) stellen eine seltene Form der HWS-Frakturen dar und gehen nahtlos in Schädelbasisfrakturen über. Abhängig von der Kraftrichtung entstehen typische Verletzungsmuster, die durch Anderson & Montesano klassifiziert wurden.
Klassifikation der Okzipitalkondylenfrakturen nach Anderson / Montesano
- Typ I (axiale Krafteinwirkung): Unilaterale Kompressionsfraktur der Kondyle
- Typ II (direkte Kraftauswirkung auf den Schädel): Fraktur der Kondyle in der Frontalebene als Erweiterung einer Foramen magnum Fraktur = meist begleitende Schädelbasisfraktur
- Typ III (Rotation- / Distraktionsbewegung): Avulsionsfraktur der Ligg. alaria in der Horizontalebene
Diagnostik und Therapie
Diagnostisch steht vor allem die Beurteilung der Stabilität im Vordergrund, von der sich die Therapie ableitet:
- Konservativ (stabile Typ-I- & -II-Frakturen): keine Reposition notwendig, Zervikalorthese für 6-12 Wochen
- Operativ (instabile Typ-III-Frakturen): Temporäre okzipito-zervikale Stabilisierung mit Metallentfernung nach knöcherner Konsolidierung (meist nach ca. 6 Monaten)
- Notfallstabilisierung bei atlantookzipitaler Dissoziation mittels Halo-Fixateurs und sekundärer Operation

Atlasfrakturen (C1)
Atlasfrakturen (C1) sind die zweithäufigsten Frakturen (30%) der oberen Halswirbelsäule und entstehen meist bei Hochrasanztraumata mit Flexions-, Extensions- und Rotationskomponente. Begleitende Dens-Axis-Frakturen und Trauma assoziierte Spondylolisthese sind häufige Begleitverletzungen.
Klassifikation der Atlasfrakturen nach Gehweiler
- Typ I: isolierte Fraktur der vorderen Atlasbogens
- Typ II: isolierte Fraktur des hinteren Atlasbogens
- Typ III: Fraktur des vorderen und hinteren Atlasbogens = Jefferson-Fraktur (Typ IIIa: intaktes Lig. transversum, Typ IIIb: Ruptur des Lig. transversum)
- Typ IV: Isolierte Fraktur der Massa lateralis
- Typ V: Isolierte Fraktur des Proc. transversus
Therapieoptionen der Atlasfrakturen
- Konservativ (stabile Typ I, II, IIIa und V): Zervikalorthese 6-12 Wochen
- Operativ (instabile Typ IIIb): Dorsale atlanto-axiale Spondylodese HW ½ oder temporäre Stabilisierung HW 1/2
- Operativ (instabile Typ IV): temporäre Stabilisierung (mindestens HW 2)
- Notfallstabilisierung stark dislozierte IIIb- und IV-Frakturen vor allem bei jungen Patient:innen mittels Halo-Fixateur (6-12 Wochen, Röntgen nach 1 Woche)

TippEine Metallentfernung bei temporärer Stabilisierung erfolgt meist nach ca. 3-6 Monaten bei nachgewiesener Konsolidierung.
Dens-Axis-Frakturen (C2)
Dens-Axis-Frakturen (C2) sind mit Axisringfrakturen (C2) die häufigsten Frakturen der oberen HWS. Die Frakturen entstehen durch Sturz auf den Kopf / Hals. Dens-Frakturen kommen bei Osteoporose begünstigt vor.
Klassifikation
Klassifikation der Dens-Axis-Frakturen nach Anderson & D‘Alonzo und Subklassifikation der Typ II Frakturen nach Grauer:
- Typ I: Fraktur der Densspitze bzw. knöcherner Ausriss der Ligg. alaria
- Typ II: Frakturverlauf
durch die Densbasis - A: horizontal
- B: Abkipptendenz nach dorsal (ventral-kranial nach dorsal-kaudal)
- C: Abkipptendenz nach ventral (dorsal-kranial nach ventral-kaudal)
- Typ III: v- oder u-förmiger Ausriss des Dens aus dem Axis-Corpus
InfoDa der Spalt einer Grauer-C (Typ II)-Fraktur parallel zur Eintrittsrichtung einer ventralen Dens-Zugschraube verläuft, kommt dieses gelenkerhaltende Verfahren dort nicht in Betracht.


Therapieoptionen der Dens-Axis-Frakturen
- Typ I: meist stabil, daher konservativ mittels Zervikalorthese
- Typ II (undisloziert oder Kontraindikationen gegen OP): konservativ mittels Zervikalorthese möglich à erhöhtes Pseudarthroserisiko
- Typ II (disloziert):
- Typ II (> 65 Jahre oder schlechte Knochenqualität): Dorsale Fusion
C1/2, alternativ ventrale transartikuläre Verschraubung ggf. + Dens Schraube - Typ II (< 65 Jahre, gute Qualität, Grauer A / B): Ventrale Zugschrauben- osteosynthese (1-2 Schrauben) des Dens
- Typ II (< 65 Jahre, gute Qualität, Grauer C): temporäre dorsale . Stabilisierung C1 / 2 (Metallentfernung bei Konsolidierung nach 3-6 . Monaten)
- Typ II (> 65 Jahre oder schlechte Knochenqualität): Dorsale Fusion
- Typ III (stabil): Stabilitätsprüfung à konservativ mittels Zervikalorthese
- Typ III (instabil): ggf. Reposition und temporäre dorsale Stabilisierung C1/2/(3) (Metallentfernung bei Konsolidierung nach 3-6 Monaten)

Axisringfrakturen
Klassifikation
Klassifikation der Axisringfrakturen nach Josten und Effendi:
- Josten / Effendi Typ I (meist Hyperextensionsverletzung): Fraktur des Axis-Isthmus mit Dislokation
bis 2 mm ohne relevante diskoligamentären Verletzungen - Josten Typ II / Effendi Typ II (Hyperflexionsverletzung): Fraktur des Axis-Isthmus mit Dislokation
> 2 mm und / oder Kyphose HW 2/3 (Ruptur hinteres Längsband / Bandscheibe bei erhaltenem vorderen Längsband = Erhalt der Stabilität in Extension und bei Kompression) - Josten Typ III / Effendi Typ II (Hyperextensionsverletzung): Fraktur des Axis-Isthmus mit Dislokation
> 2mm und / oder Lordose HW 2/3 (Ruptur vorderes Längsband / Bandscheibe) - Josten Typ IV: Dislozierte Axis-Isthmusfraktur mit uni- oder bilateraler Facettengelenksluxation HW 2/3
- Effendi Typ III: Erhebliche Dislokation
und Abkippung bei uni- oder bilateraler Verhakung der Facettengelenke HW 2/3

Therapieoptionen der Axisringfrakturen
- Josten / Effendi Typ I: stabil, daher konservativ mit Zervikalorthese
- Josten Typ II / Effendi Typ II: wenn stabil, konservativ mit Zervikalorthese, bei Bandscheibendestruktion ggf. Halo-Fixateur, wenn instabil, meist operativ mittels ventraler Fusion
HWK 2/3 (Cage + Platte), seltener bei intakter Bandscheibe dorsale Verschraubung als Isthmus-Rekonstruktion - Josten Typ III / Effendi Typ II: nach Reposition ventraler Fusion
HWK 2/3 (Cage + Platte), alternativ dorsale Fusion HWK 2/3 inklusive HWK 2 frakturübergreifender Pedikelschraube, alternativ dorsale Stabilisierung HWK 1-3 + ventrale Fusion HWK 2/3 mit anschließender Freigabe von HWK 1/2 nach Konsolidierung - Josten Typ IV / Effendi Typ III: Bei geschlossener erfolgreicher Reposition ventrale Fusion
HWK 2/3 möglich, alternativ dorsale Stabilisierung HWK 1-3 + ventrale Fusion HWK 2/3 mit anschließender Freigabe von HWK 1/2 nach Konsolidierung
