Zusammenfassung
Wirbelkörperfrakturen nehmen eine besondere Stellung ein, da sich die Wirbelsäulenchirurgie die Stellung zwischen den Fachgebieten Unfallchirurgie, Orthopädie und Neurochirurgie teilt. Häufig findet man in Krankenhäusern gemischte Abteilungen. Eine besondere Stellung nehmen die Frakturen auch daher ein, da sie eine besondere Nähe zum Rückenmark und den Nervenwurzeln aufweisen. Eine ordentliche neurologische Diagnostik und die genaue Zuordnung sensomotorischer Defizite zu den passenden Wirbelsäulensegmenten (Dermatome, Kennmuskeln) ist daher unbedingt.
MerkeAm häufigsten von Frakturen betroffen ist der thorakolumbale Übergang.
Grob zusammengefasst gibt es zwei Patient:innengruppen, bei denen man sofort an eine Wirbelkörperfraktur denken sollte:
- Passender Unfallmechanismus: Hochrasanztrauma bei jungen Menschen (Sturz aus großer Höhe, Verkehrsunfälle) oder Niedrigrasanztrauma bei älteren Patient:innen (z.B. Stolpersturz auf den Rücken). Am häufigsten erfolgt eine axiale Stauchung oder ein Flexionstrauma, des Weiteren spielen Hyperextension oder Rotationskomponenten eine Rolle
- Atraumatische Rückenschmerzen oder sensomotorische Defizite bei Patient:innen mit Risikofaktoren: Vor allem bei Osteoporose oder Tumor-erkrankungen (beispielsweise Metastasenbedingt) kann es auch ohne passenden Traumamechanismus zu pathologischen Frakturen kommen (z.B. osteoporotische Sinterung).
Klassifikation
Die AO-Klassifikation
Säulenmodell nach Denis
Um die Stabilität bei A-Frakturen (B- und C-Frakturen sind immer instabil) beurteilen zu können, orientiert man sich am Säulenmodell nach Denis. Zugrunde liegend wird der Wirbelkörper von ventral nach dorsal in 3 Säulen eingeteilt. Die vordere Säule beinhaltet die von der Vorderkante ausgehenden 2/3 des Wirbelkörpers inklusive des vorderen Längsbandes (Lig. longitudinale anterius), die mittlere Säule die hinteren 1/3 bis zur Hinterkante, das hintere Längsband (Lig. longitudinale posterius und die Bandscheibe und die hintere Säule die Facettengelenke, Wirbelbögen und Fortsätze, sowie die restlichen hinteren Bänder (Lig. supra- / intraspinata, Ligg. flava, Kapsel der Facettengelenke).
Auswertung: Frakturen der vorderen Säule gelten als
A-Frakturen
- A0-Fraktur: Nicht-tragende Wirbelfortsatz-Fraktur (stabil)
- A1-Fraktur: Keilfraktur einer Endplatte ohne Hinterkante (stabil)
- A2-Fraktur: Spaltbruch ohne Hinterkantenbeteiligung = Pincerfraktur (meist stabil)
- A3-Fraktur: Berstungsbruch mit oberer Deckplatte und Hinterkante (gesteigerte Instabilität)
- A4-Fraktur: Berstungsbruch mit oberer + unterer Deckplatte + Hinterkante (gesteigerte Instabilität)
InfoTrotz der Unterteilung in A / B / C- und OF-Verletzungen schließen sich diese nicht gegenseitig aus. Eine knöcherne A3-Verletzung kann mit Ruptur der dorsalen Ligamente z.B. als
A3-B2-Verletzung bezeichnet werden.

B-Frakturen
- B1-Fraktur: Chance-Fracture = transossäre dorsale Spaltung (Flexionsverletzung)
- B2-Fraktur: Ruptur des dorsalen Bandapparats (Flexionsverletzung) bei erhaltenem ventralen Bandapparat
- B3-Fraktur: Verletzung der Bandscheibe und des ventralen Bandapparats (Extensions-verletzung) fast ausschließlich bei ankylosierenden Erkrankungen (M. Bechterew)

C-Frakturen
- C-Fraktur: Verletzung aller drei Säulen (gemischte Verletzung des Knochens, der Bänder und Bandscheiben) durch vertikale und horizontale Krafteinwirkung (hochgradige Instabilität mit Dislokationstendenz)


TippBei rotationsinstabilen C-Frakturen und vor allem bei kurzstreckigen Instrumentierungen sollten Quer-Konnektoren zusätzlich eingesetzt werden.
Osteoporotische Frakturen: OF-Klassifikation
Merkmal | Schweregrad | Punkte |
---|---|---|
Morphologie (OF 1-5) | 1-5 | 2-10 |
Knochendichte | T-Score <-3 | 1 |
Sinterungsdynamik (1 Woche) | Ja / Nein | 1 / -1 |
Schmerzen unter Analgesie | VAS ≥4 / <4 | 1 / -1 |
Neurologisches Defizit | Ja | 2 |
Mobilisation | Nein / Ja | 1 / -1 |
Gesundheitszustand | ASA>3, Demenz, BMI | je -1 (max. -2) |
Auswertung
- 0-5 Punkte: Konservative Behandlung
- 6 Punkte: Relative OP-Indikation
- > 6 Punkte: OP-Indikation
Diagnostik
Die Diagnostik und Entscheidung der richtigen Therapie setzt sich vor allem aus der Erhebung der Risikofaktoren, Vorerkrankungen und OP-Fähigkeit (Osteoporose, Morbus Bechterew
Als

Wird eine Fraktur festgestellt und kann eine Instabilität oder eine frakturbedingte Einengung des Spinalkanals nicht ausgeschlossen werden, sollte ein CT (oder MRT) ergänzt werden. Ein MRT und besonders die STIR-Sequenz eignet sich zur Beurteilung der ligamentären ventralen und dorsalen Zuggurtung. Besonders bei Frauen ab
AchtungEine Röntgen-Aufnahme im Liegen kann eine frakturbedingte Kyphose verschleiern
Therapie
Frakturen mit neurologischen Folgen / Querschnitt sollten operativ versorgt werden. Neben der Empfehlung einer eher operativen Therapie für instabile Frakturen (A3, A4, B, C) und einer eher konservativen Therapie für stabile Frakturen (A0-A2) nach AO (ohne neurologische Defizite), sollte auch eine frakturbedingte Kyphose/ Skoliose in die Überlegung mit einbezogen werden. Ist die Fraktur stabil, die Kyphosierung durch die Fraktur jedoch > 15-20° zur vorherigen Stellung (sagittaler mono- / bisegmentaler Grund-Deckplattenwinkel GDW) oder eine frische Skoliose über 10° (frontaler Skoliosewinkel), sollte trotzdem eine Operation erwogen werden.
Liegt eine Osteoporose vor, orientiert man sich zusätzlich am zuvor beschriebenen OF-Score, der sich an der OF-Klassifikation, Knochendichte, Sinterungsdynamik, dem Gesundheitszustand und dem Resultat der klinisch-neurologischen Untersuchung orientiert.

Konservative Therapie (nicht fehlgestellte stabile Fraktur ohne sensomotorische Defizite und ohne Risiko der sekundären Fehlstellung)
- Frühmobilisation unter adäquater Schmerztherapie, regelmäßige klinisch-radiologische Kontrollen, Zusatzmaßnahmen: ggf. Thromboembolie-prophylaxe, Korsettbehandlung, Physiotherapie, Patient:innenschulung
Operative Therapiemöglichkeiten
- Dorsale Instrumentierung (Fixateur interne): Diese erfolgt zum Beispiel bei Beteiligung der Deckplatte (A3-Fraktur) mit möglicher
Schädigung der darüber liegenden Bandscheibe monosegmental, bei Beteiligung von Deck- und Grundplatte (A4) bisegmental - Anteriore Rekonstruktion (Entfernung der Bandscheibe und Ersatz durch einen Platzhalter = Cage): Vor allem bei Schädigung der Bandscheiben teils bei A2 / 3 / 4-Frakturen, wird dieses Verfahren meist zusätzlich zur dorsalen Instrumentierung eingesetzt. Dabei wird über verschiedene Zugangswege die Bandscheibe entfernt, damit die Verknöcherung der benachbarten Wirbelkörper angeregt und durch ventrale Cage-Einlage der Neigungswinkel (Kyphose) lordosierend korrigiert werden kann.
- PLIF (posterior lumbar intervertebral fusion
): Zugang von dorsal, mit Freilegung des Spinalkanals (Dekompression), Entfernung der betroffenen Bandscheibe(n), Platzhalter-Einbringung (Cages) ins Bandscheibenfach - TLIF (transforminal lumbar interbody fusion
): Zugang von dorsal, jedoch durch die Zwischenwirbellöcher ohne Dekompression - XLIF (extreme lateral interbody fusion
) mit minimalinvasiverem streng lateral, transpsoatischen Zugang (möglich ca. von Th5-L5, im lumbalen Bereich + Neuromonitoring zum Schutz des Plexus lumbosacralis)
TippHäufig erfolgt eine Stabilisierung bei osteoporotischen Frakturen erweitert, z.B. 2 Wirbelkörper ober- und unterhalb der Fraktur. Ziel: Stabilität + Dekompression + Achse
- Wirbelkörperersatz: Bei hochgradiger Zerstörung des Wirbelkörpers kann ein Ersatz infrage kommen. Dieser erfolgt auf BWK- und LWK1-Höhe teils über eine Minithorakotomie (+ Thoraxdrainagen-Einlage), im Bereich von LWK2-4 über einen lateralen Zugang retroperitoneal durch den M. psoas, sowie im darunter liegenden LWS-Bereich meist von anterior. Es handelt sich aufgrund des andernorts erfolgten zweiten Zugangs fast immer um ein zweizeitiges Verfahren nach zuvor von dorsal erfolgter Stabilisierung

- Ballon-Kyphoplastie (Einspritzen von Knochenzement zur Analgesie und Aufrichtung des Wirbelkörpers) bei osteoporotischen / -lytischen Frakturen (Kontraindikation: Hinterkantenbeteiligung, da sonst Verlegung des Spinalkanals drohnt)
- Zementaugmentation der Schrauben (bei schlechter Knochenqualität z.B. bei Osteoporose zur Verstärkung des Schraubenhaltes)

TippTemporär stabilisierte Segmente ohne Frakturbeteiligung sollten nach erfolgter Frakturheilung wieder freigegeben werden.