Zusammenfassung
Ein Massenanfall von Verletzten und Erkrankten (MANV) liegt vor, wenn mehr Patient:innen betroffen sind, als der Regelrettungsdienst bewältigen kann. In der Anfangsphase herrscht Personalmangel und organisatorisches Chaos. Ziel ist es, schnellstmöglich wieder eine individualmedizinische Versorgung sicherzustellen.
Das Vorgehen ist im Rahmenalarm- und Einsatzplan (RAEP) Gesundheit der Landkreise geregelt. Dort wird festgelegt, wie die Versorgung, Betreuung und Organisation im Schadensfall ablaufen.
Bei einem MANV werden Exponierte, Verletzte, Patient:innen und Betroffene unterschieden. Um strukturiert vorzugehen, gibt es Alarmstufen, die die benötigten Kräfte und Mittel staffeln. Ab Alarmstufe 3 oder bei mehr als 6 Verletzten müssen ein:e Leitende:r Notärzt:in (LNA) und eine Organisatorische Leitung Rettungsdienst (OrgL) eingesetzt werden.
Die Führungsstruktur gliedert sich in die Gesamteinsatzleitung (meist durch die Feuerwehr gestellt) und den Abschnitt „Medizinische Rettung“, geführt von LNA (medizinisch) und OrgL (organisatorisch). Unterabschnitte wie Patientenablage (PA), Behandlungsplatz (BHP) und Transportorganisation (TrOrg) schaffen Übersicht und einen geregelten Ablauf.
Wichtig ist die Kennzeichnung mit Westen, um Verantwortlichkeiten sofort erkennbar zu machen, dies ist regional unterschiedlich geregelt.
Das ersteintreffende Rettungsmittel bildet den zentralen Ausgangspunkt für einen erfolgreichen Einsatzverlauf. Es übernimmt die erste Lageerkundung, gibt eine qualifizierte Rückmeldung an die Leitstelle
Nach der Lageerkundung und Erstmeldung erfolgt die Vorsichtung (ca. 30–60 s Zeitaufwand pro Patient:in) zur Prioritätensetzung, anschließend die ärztliche Sichtung in SK I–IV (rot, gelb, grün, blau). Die Dokumentation umfasst Kennzeichnung an Patienten:innen und eine Gesamtübersicht (Zahlen, Kategorien, Transport/Ziel).
MerkeStruktur schaffen, Prioritäten setzen, klare Führung herstellen, so wird ein MANV effizient und sicher bewältigt.
Grundlagen
DefinitionMANV und Großschadensereignis
Ein MANV liegt vor, wenn mehr Verletzte oder Erkrankte betroffen sind, als die regulären Rettungsdienstkräfte versorgen können. Zu Beginn besteht ein Mangel an Personal und Material. Hinzu kommt eine hohe organisatorische Komplexität.
→ Ziel ist es, die individualmedizinische Versorgung so schnell wie möglich wieder sicherzustellen.
Die Definition eines MANV hängt von den örtlichen Strukturen des Rettungsdienstes und der Kliniken ab und variiert daher regional. In vielen Regionen gilt bereits eine Zahl von mehr als fünf Verletzten als Massenanfall.
Ein Großschadensereignis liegt vor, wenn erhebliche Sachschäden entstehen. Dies kann zusätzlich zu einem MANV auftreten, muss aber nicht gegeben sein.
Herausforderungen:
Der Regelrettungsdienst in Deutschland ist primär auf eine hochwertige, individualmedizinische Versorgung einzelner Notfallpatient:innen ausgelegt. Kommt es jedoch zu einem Massenanfall von Verletzten, übersteigt die Anzahl erkrankter Personen schnell die vorhandenen Kapazitäten. Eine individuelle Versorgung ist dann zunächst nicht möglich. Stattdessen müssen die begrenzten Ressourcen so eingesetzt werden, dass möglichst viele Patient:innen eine effiziente und lebensrettende Erstversorgung erhalten.
Damit dies gelingt, muss der Einsatzablauf unmittelbar nach Erkennen einer Großschadenslage strukturiert werden.
TippVerschiedene Personengruppen
Bei einem Massenanfall von Verletzten und Erkrankten (MANV) treten verschiedene Personengruppen auf, die unterschieden werden müssen.
- Exponierte Personen: Menschen, die durch ein Ereignis unmittelbar oder mittelbar betroffen sind und dadurch beeinträchtigt werden können
- Verletzte: Personen, die durch eine äußere Einwirkung (z.B. Unfall, Gewalt, Hitze, Explosion) einen Gesundheitsschaden erlitten haben
- Patient:innen: Personen, deren Zustand eine medizinische Versorgung durch Fachpersonal und/oder einen geeigneten Transport erforderlich macht
- Betroffene: Personen, die zwar durch das Ereignis beeinträchtigt sind, aber keine Patient:innen darstellen (z.B. unverletzte Angehörige, Schaulustige, psychisch belastete Menschen)
MerkeHerausforderungen bei MANV
Ziel ist es, rasch wieder eine adäquate individualmedizinische Versorgung für alle Patient:innen zu ermöglichen.
- Anfangs müssen fehlende Kräfte und Material durch überregionale Unterstützung ausgeglichen und die Lage geordnet werden
- Anschließend gilt es, die vielen Einsatzkräfte und Organisationen effektiv zu koordinieren
InfoDie konkrete Vorgehensweise ist in den MANV-Konzepten der Bundesländer festgelegt, die sich teils deutlich unterscheiden. Hier werden daher allgemeine Grundsätze für den Umgang mit Großschadenslagen dargestellt.
Mögliche Szenarien:
- Massenkarambolagen oder Zugunglücke: vor allem Verletzte, oft über eine größere Fläche verteilt
- Naturereignisse (z.B. Stürme, Erdbeben): Verletzte an verschiedenen Orten
- Großbrände: Industriebrände, Brände in Gebäuden mit hoher Personenzahl (Wohnanlagen, Einkaufszentren) oder Waldbrände
- Großveranstaltungen (z.B. Public Viewing, Konzerte, Sportevents): Gefahr von Massenpaniken, viele unverletzte Personen erschweren die Übersicht
- Infektionen oder Lebensmittelvergiftungen (z.B. in Pflegeheimen, Hotels, auf Schiffen): viele Erkrankte in kurzer Zeit
- Amok- oder Terrorlagen: Verletzungen durch den Angriff selbst und durch mögliche Massenpaniken danach
AchtungTerroranschläge, Amokläufe und ähnliche Situationen mit fortbestehender Gefahr werden unter dem Begriff LebEL - lebensbedrohliche Einsatzlagen zusammengefasst. Sie erfordern ein spezielles taktisches Vorgehen, da diese meist dynamisch sind und mit einer Gefährdung für die Einsatzkräfte einhergehen.
Rahmen-, Alarm- und Einsatzplan (RAEP) Gesundheit
DefinitionDer Rahmenalarm- und Einsatzplan (RAEP) Gesundheit legt die Strukturen und Abläufe zur medizinischen Primär- und Sekundärversorgung von verletzten oder anderweitig gesundheitlich geschädigten Personen fest. Zudem regelt er die Betreuung von Betroffenen eines Schadensereignisses, einschließlich Angehöriger und unverletzter Beteiligter.
Alarm- und Einsatzpläne (AEP):
Gemäß den Vorgaben des Landesgesetzes über den Brandschutz, die allgemeine Hilfe und den Katastrophenschutz (LBKG) sind die Gemeinden und Landkreise als Aufgabenträger verpflichtet, zur wirksamen Gefahrenabwehr Alarm- und Einsatzpläne (AEP) zu erstellen.
Auf Grundlage einer Gefahrenabwehr- und Bedarfsanalyse wird dabei im Detail folgendes festgelegt:
- Wie die präklinische gesundheitliche Versorgung und Betreuung von Verletzten, Erkrankten und Betroffenen organisiert wird
- Welche Abläufe, Strukturen und Ressourcen im Einsatzfall vorgesehen sind
Der AEP Gesundheit wird durch die Kreisverwaltungen bzw. Stadtverwaltungen der kreisfreien Städte erstellt und in enger Abstimmung mit den Gemeinden sowie den in der örtlichen Gefahrenabwehr mitwirkenden Hilfsorganisationen festgelegt.
TippJeder Landkreis und jede kreisfreie Stadt ist verpflichtet, einen eigenen Alarm- und Einsatzplan (AEP) Gesundheit zu erstellen.
→ Ziel ist, dass jede Gebietskörperschaft im Schadensfall schnell, koordiniert und angepasst reagieren kann. Es ist also keine landesweit einheitliche Schablone, sondern eine lokal angepasste Einsatzplanung innerhalb des landesweiten Rahmens.
Alarmstufen
Alarmstufen dienen dazu, den Einsatz medizinischer und organisatorischer Kräfte abgestuft nach Schadensausmaß und Patientenanzahl zu planen. Sie ermöglichen eine strukturierte, bedarfsgerechte Alarmierung und verhindern sowohl eine Überlastung als auch eine Unterversorgung der Einsatzstelle.
MerkeJe höher die Alarmstufe, desto mehr Ressourcen, Personal, Fahrzeuge und Führungskräfte, werden in Bewegung gesetzt.
InfoVorgehensweise und Einsatz von LNA und OrgL:
- Es ist immer nach der höchsten festgestellten Alarmstufe vorzugehen
- Der oder die Leitende Notärzt:in (LNA) und der Organisatorische Leiter Rettungsdienst (OrgL) können in jeder Alarmstufe eingesetzt werden, wenn die Lage dies erfordert oder durch die Einsatzleitung bzw. Rettungsdiensteinheiten vor Ort angefordert werden
- Verpflichtend müssen LNA und OrgL eingesetzt werden, wenn:
- Alarmstufe 3 ausgelöst wird, oder
- 6 oder mehr schwerverletzte Personen bzw. mehr als 6 verletzte Personen insgesamt medizinisch versorgt werden müssen
Zur besseren Veranschaulichung der Alarmstufen wird hier ein Beispiel dargestellt.
Die Auslösung der jeweiligen Alarmstufe hängt dabei von der örtlichen Verfügbarkeit der Rettungsmittel und Einsatzkräfte in den einzelnen Landkreisen oder kreisfreien Städten ab.
Das bedeutet: Die konkreten Schwellenwerte, ab wann welche Alarmstufe aktiviert wird, können regional unterschiedlich sein. Sie orientieren sich jedoch immer an den vorhandenen Ressourcen und Einsatzstrukturen des jeweiligen Bereichs.
Verfügbare Rettungsmittel:
| Rettungsmittel | Anzahl |
|---|---|
| Rettungstransportwagen, Krankentransportwagen | 7 |
| SEG-San (Schnelleinsatzgruppe Sanitätsdienst) | 1 |
| SEG-B (Schnelleinsatzgruppe Betreuung) | 1 |
| SEG-V (Schnelleinsatzgruppe Verpflegung) | 1 |
Schwellenwerte der einzelnen Alarmstufen:
| Alarmstufe | Verletzte Personen | Zu betreuuende Personen | Zu verpflegende Personen | Psychologisch zu betreuende Personen |
|---|---|---|---|---|
| 1 | 1-2 | |||
| 2 | 3-4 | 4-8 | 50-100 | 1-10 |
| 3 | 5-13 | 9-50 | 101-250 | 11-50 |
| 4 | 14-18 | 51-100 | 251-500 | 51-100 |
| 5 | 18 und mehr | 101 und mehr | 501 und mehr | 100 und mehr |
Alarmstufe 1:
Die Alarmstufe 1 wird ausgelöst, wenn etwa ein Drittel (1/3) der rund um die Uhr besetzten RTW und Notfall-KTW
Alarmstufe 2:
Die Alarmstufe 2 ist so definiert, dass die Einsatzlage theoretisch mit etwa zwei Dritteln (2/3) der rund um die Uhr besetzten RTW und Notfall-KTW
Alarmstufe 3:
Die Alarmstufe 3 erweitert die Alarmstufe 2 und ist so bemessen, dass die Einsatzlage unter Einbeziehung von etwa zwei Dritteln (2/3) aller verfügbaren SEG-Sanitätseinheiten (SEG-SAN) innerhalb der jeweiligen Gebietskörperschaft theoretisch abgearbeitet werden kann.
Alarmstufe 4
Die Alarmstufe 4 ist so definiert, dass die Einsatzlage mit rund drei Vierteln (3/4) der ständig besetzten RTW und Notfall-KTW
Alarmstufe 5:
Die Alarmstufe 5 kennzeichnet eine Einsatzlage, die nur noch mit Unterstützung externer Kräfte – d.h. überörtlicher oder überregionaler Einheiten bewältigt werden kann.
Führungs- und Organisationsstruktur
Die Führungsstrukturen bei Großschadensereignissen unterscheiden sich deutlich von denen regulärer Rettungsdiensteinsätze. Beteiligt sind in aller Regel Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr.
Da der Rettungsdienst bei solchen Szenarien häufig zusätzliche personelle und materielle Ressourcen benötigt, werden zudem (ehrenamtliche) Kräfte des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes (z.B. Schnelleinesatzgruppen, sog. SEG) sowie weitere Hilfsorganisationen und ggf. das Technische Hilfswerk (THW) eingebunden.
Zu Beginn eines Massenanfalls von Verletzten und Erkrankten (MANV) herrscht meist eine Chaosphase. Erst nach und nach können Führungs- und Kommunikationsstrukturen aufgebaut werden. Dieser Prozess benötigt Zeit und eine klare Führungsstruktur.
InfoDabei ist es unerlässlich, sich an die örtlich gültigen Verfahrensanweisungen zur Organisation von Führung und Kommunikation zu halten.
Allgemein
Führungspyramide:
Die Führungspyramide beschreibt die hierarchische und funktionale Struktur der Einsatzorganisation. Sie verdeutlicht, wie Führungs- und Entscheidungsverantwortung in mehreren Ebenen aufgeteilt werden, damit eine effektive und koordinierte Einsatzbewältigung möglich ist.
Kennzeichnungswesten:
Kennzeichnungswesten haben bei einem Massenanfall von Verletzten und Erkrankten (MANV) eine ganz zentrale Bedeutung, weil sie Ordnung und Struktur in das Einsatzgeschehen bringen.
Die wichtigsten Gründe sind:
- Leichte Erkennbarkeit: Inmitten vieler Personen (Patient:innen, Betroffene, Einsatzkräfte, Schaulustige) sind Führungskräfte und einzelne Funktionen auf den ersten Blick sichtbar
- Klare Funktionszuordnung: Westen in unterschiedlichen Farben ermöglichen die eindeutige Identifikation von Rollen (z.B. Presse, OrgL {Organisatorische Leitung Rettungsdienst}, LNA {Leitende:r Notärzt:in}, Abschnittsleiter:in)
- Schnellere Kommunikation: Durch die Sichtbarkeit wissen alle Beteiligten sofort, wer für welche Aufgaben zuständig ist. Das beschleunigt Absprachen und Entscheidungen
- Struktur im Chaos: Sie schaffen eine optische Ordnung und helfen, dass neue Kräfte oder externe Einheiten sich rasch orientieren können
AchtungDie Kennzeichnungswesten im MANV-Einsatz sind kein bundesweit einheitlich geregeltes System, sondern können sich in Farbe, Beschriftung und zugewiesener Funktion von Bundesland zu Bundesland unterscheiden.
Das bedeutet:
- Jede Region kann eigene Farbkonzepte und Funktionszuordnungen festlegen
- Für Einsatzkräfte ist es daher unbedingt erforderlich, sich mit den jeweils gültigen Vorgaben im eigenen Bundesland vertraut zu machen
Hier werden exemplarisch die Kennzeichnungswesten im Bundesland Rheinland-Pfalz dargestellt.
| Führungsebene | Personen | Kennzeichnugsweste | Aufschrift |
|---|---|---|---|
| Einsatzleiter |
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|
| (Vorläufige:r) Einsatzabschnitts-leiter:in |
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|
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| |
| Unterabschnitts-leiter:in |
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|
| Gruppenführer:in |
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|
| Sonstige |
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|
| Sonstige |
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|
Gesamteinsatzleitung:
Die Gesamteinsatzleitung liegt in der Regel bei der Feuerwehr, die als federführende Organisation den Überblick über alle eingesetzten Kräfte behält. Sie koordiniert die Gefahrenabwehr und trifft die übergeordneten taktischen Entscheidungen.
InfoDer Rettungsdienst ist in diese Führungsstruktur eingebettet und stellt einen eigenen Einsatzabschnitt „Medizinische Rettung“.
Einsatzabschnitt: Medizinische Rettung
Innerhalb des Gesamteinsatzes wird die medizinische Versorgung in einem eigenen Einsatzabschnitt gebündelt. Dieser Abschnitt trägt mehrheitlich die Bezeichnung „Medizinische Rettung“ (alternativ: „Medizinische Versorgung“).
Die Leitung des Abschnitts liegt bei zwei Führungskräften:
Leitende:r Notärzt:in (LNA):
Der oder die LNA ist für die medizinische Leitung des Einsatzabschnitts „Medizinische Rettung“ verantwortlich.
Aufgaben:
- Sichtung und Festlegung der medizinischen Behandlungsprioritäten
- Koordination und Überwachung der medizinischen Versorgung und Transporte
- Entscheidung über lebensrettende Sofortmaßnahmen und deren Priorisierung
- Beratung der Gesamteinsatzleitung und des Führungsstabs in medizinischen Fragen
- Einschätzung gesundheitlicher Gefahren für Einsatzkräfte und Betroffene
- Zusammenarbeit mit dem Organisatorischen Leiter Rettungsdienst (OrgL) bei Raumordnung und Einsatzorganisation
- Medizinische Fachverantwortung → in medizinischen Fragen hat der LNA Weisungsrecht
Organisatorische Leitung Rettungsdienst (OrgL):
Der oder die OrgL übernimmt die taktisch-organisatorische Leitung des Einsatzabschnitts „Medizinische Rettung“.
Aufgaben:
- Aufbau und Organisation der rettungsdienstlichen Infrastruktur (Patientenablage, Behandlungsplatz, Transportorganisation)
- Raumordnung und Abstimmung mit Feuerwehr / Polizei
- Planung und Einsatz des rettungsdienstlichen Personals
- Organisation der Kommunikation innerhalb des Rettungsdienstabschnitts
- Erfassung von Krankenhaus- und Transportkapazitäten
- Patientendokumentation und Registrierung
- Erstellung des Einsatzberichts Rettungsdienst
- Sicherstellung des Betriebs von Patientenablage, Behandlungsplatz, Rettungsmittelhalte- und Bereitstellungsräumen
MerkeZusammenarbeit und Informationsfluss
- LNA = medizinische Leitung (wer wird wie behandelt?)
- OrgL = organisatorische Leitung (wer kommt wohin, wann, mit welchen Mitteln?)
- Beide arbeiten gleichberechtigt, aber mit klar abgegrenzten Zuständigkeiten
- Beide geben Rückmeldungen an die Gesamteinsatzleitung
- Unterstützung durch Führungsassistent:innen, Einsatzleitwagen oder Führungsstab für Dokumentation und Kommunikation
Unterabschnitte der medizinischen Rettung
Um die Einsatzstelle überschaubar zu strukturieren, wird der Abschnitt „Medizinische Rettung“ in Unterabschnitte gegliedert.
Typisch sind:
- Patient:innenablage (PA)
- Übergabe
der geretteten Patient:innen von Feuerwehr an Rettungsdienst - Sichtung, Kennzeichnung und erste Versorgung
- Sammelpunkt vor Transport oder Weiterverlegung
- Übergabe
- Behandlungsplatz (BHP)
- Medizinische Versorgung nach Sichtungskategorie
- Möglichkeit zum „Puffern“ nicht vital bedrohter Patient:innen
- Vorbereitung des Transports in geeignete Kliniken
- Transportorganisation (TrOrg)
- Einrichtung und Koordination von:
- Rettungsmittelhalteplatz: Ein Rettungsmittelhalteplatz ist der vorgegebene Standort für einzelne Rettungsmittel (z.B. RTW, NEF, RTH) in unmittelbarer Nähe zur Einsatzstelle. Dort warten die Fahrzeuge einsatzbereit, bis sie gezielt durch die Einsatzleitung oder Abschnittsleitung zur Einsatzstelle abgerufen werden
- Bereitstellungsraum: Ein Bereitstellungsraum ist ein Sammel- und Wartebereich für mehrere Einsatzfahrzeuge oder -kräfte, die noch nicht im Einsatzabschnitt eingesetzt sind. Er liegt meist außerhalb des Gefahren- oder Einsatzgebiets und dient der Koordination, Nachführung und Reservebildung
- Zuweisung von Transportmitteln
- Verteilung der Patient:innen auf geeignete Krankenhäuser
- Dokumentation von Abtransport und Verbleib
- Einrichtung und Koordination von:
Merke
- Klare Führungsstruktur = Grundpfeiler für den Einsatzerfolg im MANV
- LNA + OrgL = Teamleitung des Abschnitts „Medizinische Rettung“
- Unterabschnitte (PA, BHP, TrOrg) machen die Arbeit vor Ort transparenter
Sichtungsprozess
Der Sichtungsprozess ist ein standardisiertes Verfahren, mit dem bei einem Notfall mit vielen Verletzten oder Erkrankten die medizinischen Behandlungsprioritäten festgelegt werden. Er kommt dann zum Einsatz, wenn eine individualmedizinische Versorgung aller Patient:innen zunächst nicht möglich ist.
Er umfasst dabei definierte Schritte, die als Grundlage für alle weiteren medizinischen und taktischen Entscheidungen dienen.
Lageerkundung und Ersteinschätzung
Im Rahmen der Lageerkundung begibt sich die Besatzung des ersteintreffenden Rettungsmittels gemeinsam zur Einsatzstelle und verschafft sich einen ersten Überblick. Die Beurteilung erfolgt dabei zunächst rettungsdienst-taktisch und nicht individualmedizinisch.
Wichtige Aspekte sind:
- Gefahrenbeurteilung: Analyse möglicher Risiken an der Einsatzstelle
- Abschätzen der Zahl der Betroffenen: Zu diesem Zeitpunkt erfolgt noch keine Differenzierung nach Sichtungskategorien (rot/gelb/grün). Eine grobe Einteilung kann lediglich zwischen leicht Betroffenen (stehend, gehend, sitzend) und schwer Verletzten (liegend, eingeschlossen, eingeklemmt) vorgenommen werden, um eine Gesamtzahl zu ermitteln
- Allgemeines Lagebild: Abgleich, ob sich die Meldung der Leitstelle
mit der tatsächlichen Situation vor Ort bestätigt
Sobald die Lageerkundung abgeschlossen ist, gibt das erste Rettungsmittel eine qualifizierte Rückmeldung an die Leitstelle

AchtungDas Vorgehen der Lageerkundung, Ersteinschätzung und Vorsichtung sollte von jedem Mitarbeitenden des Rettungsdienstes beherrscht werden. Jedes Rettungsmittel kann als erstes Fahrzeug an einem Großeinsatz eintreffen und muss dann souverän erste Schritte einleiten können.
Eine sichere Beherrschung dieses Prozesses zahlt sich also aus!
Vorsichtung
Gerade in der Frühphase von Großschadenslagen oder Katastrophen besteht meist ein deutliches Missverhältnis zwischen verfügbaren Ressourcen und der Zahl der Betroffenen. Eine individualmedizinische Versorgung aller Patient:innen ist zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Daher darf nicht auf das Eintreffen ausreichend vieler Ärzt:innen gewartet werden. Es muss so früh wie möglich eine vorläufige Behandlungs- und Transportpriorität festgelegt werden, um die vorhandenen Rettungsmittel effektiv einzusetzen.
Diese Aufgabe wird in der Regel von Notfallsanitäter:innen übernommen. Die Vorsichtung ersetzt dabei nicht die ärztliche Sichtung, ist aber häufig richtungsweisend für die Priorisierung und bringt den Betroffenen durch schnellere Maßnahmen oder einen vorrangigen Transport einen unmittelbaren Vorteil.
InfoRein terminologisch darf eine „Sichtung“ nur durch ärztliches Personal durchgeführt werden. Medizinische Ausbildungsberufe, wie Notfallsanitäter:innen, führen technisch gesehen immer eine „Vorsichtung” durch.
Ein entscheidender Vorteil ist der Zeitfaktor: Während eine ärztliche Sichtung mehrere Minuten pro Patient:in dauern kann, benötigt eine Vorsichtung in der Regel nur 30–60 Sekunden. Sie ist als nichtärztlicher Zwischenschritt im Sichtungsprozess nach der Ersteinschätzung eingeordnet.
MerkeAbsicht einer Vorsichtung
Ziel aller Systeme ist es, rasch diejenigen Patient:innen zu identifizieren, die die höchste Behandlungs- und Transportpriorität haben.
Ziele im Detail:
- Schnellstmögliche Identifizierung vital bedrohter Patient:innen
- Durchführung lebensrettender Sofortmaßnahmen (LSM)
- Festlegung der Transportpriorität und der zuständigen Behandlungseinheit
TippJe nach Region kommen für die Vorsichtung unterschiedliche Algorithmen und Hilfsmittel zum Einsatz. Neben dem hier dargestellten PRIOR-Algorithmus ist beispielsweise auch der mSTART-Algorithmus weit verbreitet.
Macht euch daher unbedingt mit den in eurer Region gültigen Verfahren vertraut.
Durchführung:
Bei der Vorsichtung werden die Befunde ohne technische Hilfsmittel wie Blutdruckmessung
Anstelle exakter Messwerte zählt die Gesamtschau der Symptome.
Beispiele hierzu sind:
- Auffällige Atemfrequenz
- Schwere Blutung
- Verlängerte Rekapillarisierungszeit
(> 3 Sekunden) - Bewusstseinsverlust
Dies erfordert vom Sichtenden mehr Erfahrung im Umgang mit medizinischen Notfallsituationen als das reine Abarbeiten einzelner Parameter, entspricht jedoch weitgehend der gewohnten Patientenbeurteilung im Rettungsdienst.
AchtungEigenschutz beachten
Oberste Priorität hat stets der Eigenschutz der Einsatzkräfte. Deshalb beziehen sich die ersten beiden Abfragen des PRIOR-Algorithmus auf das mögliche Vorliegen eines Anschlags bzw. einer polizeilichen Lage sowie auf eine mögliche CBRN-Bedrohung (chemisch, biologisch, radiologisch oder nuklear). Sowohl ein Anschlags-MANV als auch ein CBRN-MANV haben weitreichende einsatztaktische und medizinische Konsequenzen.
Im Folgenden wird das Vorgehen exemplarisch am PRIOR-Algorithmus dargestellt:
InfoVorsichtung ist Team-Sache
- Der Höchstqualifizierte übernimmt die Untersuchung und führt die im PRIOR-Algorithmus vorgesehenen lebensrettenden Sofortmaßnahmen durch
- Jeweilige Teampartner:innen arbeiten das xABCDE-Schema des PRIOR-Algorithmus Schritt für Schritt ab und lesen die Fragen vor. Wird eine Frage mit „Ja“ beantwortet, endet die Vorsichtung für diese Person und die Zuordnung erfolgt im entsprechenden Feld des Schadenskontos
- Anschließend bringt der oder die Höchstqualifizierte das farblich passende Vorsichtungsbändchen an. Möglichst an einer oberen Extremität. Das zugehörige Abreißticket wird entfernt und verbleibt zur Dokumentation beim Team
Sichtung
Nach der Vorsichtung erfolgt die Sichtung.
Hier werden die Verletzten weiter nach der Schwere ihrer Verletzungen und der Dringlichkeit der Behandlung in verschiedene Kategorien eingeteilt. Dies erfolgt stets unter Berücksichtigung der verfügbaren Ressourcen. Die in der Regel von der Leitenden Notärztin oder dem Leitenden Notarzt (LNA) geführte Sichtungsorganisation ist dabei ein zentraler Baustein zur Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten und Erkrankten (MANV).
InfoDie Sichtung erfolgt in der Regel an der Patientenablage. Ist im Gefahrenbereich jedoch keine akute Bedrohung vorhanden, kann sie auch direkt am Unfallort durchgeführt werden.
Sichtungsteam:
Ein Sichtungsteam besteht aus sichtendem ärztlichen Personal (Sichtungsarzt/-ärztin) und Notfall- oder Rettungssanitäter:innen, die die Dokumentation übernehmen.
Sichtungskategorien:
| Bezeichnung | Farbe | Beschreibung | Konsequenz | |
|---|---|---|---|---|
| Sichtungs-kategorie | SK I | Rot | Vitale Bedrohung | Sofortbehandlung |
| SK II | Gelb | Schwere Verletzung / Erkrankung | Dringliche Behandlung | |
| SK III | Grün | Leichte Verletzung / Erkrankung | Nicht dringliche Behandlung | |
| SK IV | Blau | Ohne Chance auf Überleben | Palliative Versorgung | |
| Kennzeichnung | EX | Schwarz | Tote | Keine Maßnahmen |
| B | Weiß | Betroffene | Betreuung | |
| Zusatz-kennzeichnung | TP | Transportpriorität | Priorisierter Transport | |
| K | Kontamination | Schutzmaßnahmen / Dekontamination |
TippSichtungskategorien im Detail
- Sichtungskategorie SK I (rot): Patient:innen dieser Kategorie sind akut vital bedroht und benötigen eine unverzügliche Behandlung
- Für sie gilt: Sofortige medizinische Maßnahmen und schnellstmöglicher Transport haben höchste Priorität
- Sichtungskategorie SK II (gelb): Hierzu zählen Patient:innen, die zwar schwer verletzt oder kritisch erkrankt sind, deren Versorgung aber kurzzeitig aufgeschoben werden kann, ohne dass unmittelbar Lebensgefahr besteht
- Ihre Behandlung ist dringend, jedoch nicht sofort lebensnotwendig
- Der Transport in eine weiterbehandelnde Einrichtung kann zeitlich nachgeordnet erfolgen
- Sichtungskategorie SK III (grün): Diese Kategorie umfasst Patient:innen mit leichten Verletzungen oder Erkrankungen, die nicht vital bedroht sind
- Ihre Behandlung kann daher nachrangig und zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen
- Sichtungskategorie SK IV (blau): Eine Einteilung in SK IV erfolgt ausschließlich nach Freigabe durch den oder die Leiter:in des Katastrophendienst-Stabs
- Diese Kategorie kommt nur in Ausnahmesituationen mit massiv verknappten Ressourcen zum Einsatz. Patient:innen in SK IV haben aufgrund der Schwere ihrer Schädigung unter den gegebenen Bedingungen keine Überlebenschance
- Sie erhalten daher keine kurative Behandlung, sondern ausschließlich Zuwendung und Schmerztherapie
Dokumentation der Sichtung:

VAK vorne.jpg von Zombi, CC BY-SA 3.0 <http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/>, via Wikimedia Commons
Ein wesentlicher Bestandteil der Sichtung ist die Dokumentation.
Sie erfolgt in zwei Schritten:
- Kennzeichnung der Patient:innen mit der jeweils festgestellten Sichtungskategorie. Dies erfolgt über die Patientenanhängekarten
- Erstellung einer Gesamtübersicht aller Sichtungsergebnisse. Diese enthält die Anzahl der gesichteten Patient:innen, ihre Kategorie, das geplante Transportmittel sowie den Zielort
Nur durch diese Übersicht behält die Einsatzleitung den Überblick über die Lage und kann den Bedarf an Versorgungsmitteln abschätzen sowie Fragen zum Transportziel einzelner Patient:innen beantworten.
MerkeDie Übersichtsdokumentation ist daher, zusätzlich zur individuellen Kennzeichnung der Patient:innen, ein unverzichtbarer Bestandteil des Sichtungsprozesses.
Weitere medizinische Versorgung
Die weitere medizinische Behandlung der Patient:innen hängt von der jeweiligen Lage und den vorhandenen Strukturen ab. In einigen Fällen ist es notwendig, lebensrettende Maßnahmen sofort direkt an der Patientenablage durchzuführen, etwa wenn eine Vitalfunktion akut bedroht ist und ein Transport ohne vorherige Intervention nicht möglich wäre.
Sobald jedoch ein Behandlungsplatz (BHP) eingerichtet ist, erfolgt die weiterführende Versorgung dort. Der BHP bietet den Vorteil einer besseren Organisation, strukturierter Versorgung nach Sichtungskategorien und einer optimalen Nutzung der verfügbaren Ressourcen. Hier können Patient:innen nicht nur stabilisiert, sondern auch für den weiteren Transport in geeignete Kliniken vorbereitet werden.
Fallbeispiel ersteintreffendes Rettungsmittel
Das Szenario
Bei der Leitstelle
- Ein vorbeifahrender Autofahrer meldet einen Busunfall auf einer Landstraße
- Das Fahrzeug liege seitlich im Graben, mehrere Personen seien ausgestiegen oder lägen am Boden, genaue Angaben zur Zahl der Verletzten könne der Anrufer nicht machen
- Er berichtet von Rauchentwicklung aus dem Motorraum, aber keinem sichtbaren Feuer
- Die Unfallstelle befinde sich außerorts auf der Landstraße zwischen zwei Ortschaften
Alarmierung durch die Leitstelle
Die Leitstelle
- 4 Rettungswagen (RTW)
- 2 Notarzteinsatzfahrzeuge (NEF)
- 1 Rettungshubschrauber (RTH)
- 1 Organisatorische Leitung Rettungsdienst (OrgL)
- 1 Leitende:r Notärzt:in (LNA)
- Rüstzug der zuständigen Feuerwehr, bestehend aus
- Hilfeleistungslöschgruppenfahrzeug (HLF)
- Rüstwagen (RW)
- Einsatzleitwagen (ELW)
- Polizei zur Verkehrslenkung und Absicherung der Unfallstelle
InfoIhr werdet während der Rückfahrt zur Wache über Funk von der Leitstelle
zu diesem Einsatz alarmiert. Da ihr euch in unmittelbarer Nähe befindet, seid ihr das ersteintreffende Rettungsmittel an der Einsatzstelle.
Alarmierung und Anfahrt
Die Alarmierung erfolgt meist durch die Leitstelle
Daher gilt: Auf Sicht fahren, taktisch denken und sich nicht von Vorinformationen blenden lassen.
MerkeTeambriefing
Bereits während der Anfahrt sollte ein erstes Teambriefing erfolgen, insbesondere dann, wenn absehbar ist, dass man als ersteintreffendes Rettungsmittel vor Ort sein wird. Dazu gehört, die MANV-Tasche griffbereit zu platzieren und die ersten geplanten Maßnahmen kurz zu besprechen. Die Notfallsanitäterin oder der Notfallsanitäter legt die entsprechende Kennzeichnungsweste an, um die Führungsrolle von Beginn an sichtbar zu machen.
Lage auf Sicht
Bereits bei der Anfahrt der Unfallstelle erfolgt nun eine erste Lagemeldung an die Leitstelle

InfoLagemeldung auf Sicht
- Einsatzort bestätigen bzw. korrigieren
- Lage vor Ort → bspw.: Art des Ereignisses, Anzahl der verunfallten Fahrzeuge, etc.
- Potenzielle Gefahren → Nachalarmierung Fachkräfte
Beispiel: Status 5 oder 0 (je nach Leitstelle
) → Sprechaufforderung „RTW 1 mit Lage auf Sicht: Einsatzort bestätigt, Verkehrsunfall Bus vs. PKW. Beide Fahrzeuge auf der Seite liegend. Rauchentwicklung erkennbar. Anzahl der Verletzten noch unklar. Feuerwehr und Polizei benötigt, Weiteres in Kürze. Ende“
Eintreffen an der Einsatzstelle
Ersteintreffende Kräfte treffen an einer MANV-Einsatzstelle häufig auf ein chaotisches Bild. In dieser frühen Phase fehlen meist Strukturen und koordinierte Hilfe. Betroffene retten sich oft selbst, während Laienhelfer:innen bereits Erste-Hilfe-Maßnahmen begonnen haben und unmittelbare Unterstützung erwarten.
Das ersteintreffende Rettungsmittel bildet den zentralen Ausgangspunkt für einen erfolgreichen Einsatzverlauf.
Von dessen erster Lagemeldung und den darauf folgenden Planungsschritten hängt maßgeblich ab, wie schnell Struktur und Effizienz in den Einsatz gebracht werden.
TippUm in dieser dynamischen Phase nichts zu übersehen und einen klaren, strukturierten Ablauf sicherzustellen, bietet es sich an, Checklisten oder standardisierte Ablaufpläne zu verwenden. Diese unterstützen das Team dabei, systematisch vorzugehen und Prioritäten richtig zu setzen.
Einsatzstelle absichern
Der Eigenschutz hat oberste Priorität. Abhängig vom Szenario kann die Einsatzstelle anfangs nicht gefahrlos betreten werden (z.B. bei Explosionsgefahr, Brand oder Austritt von Gefahrstoffen). In solchen Fällen ist eine enge Absprache mit Feuerwehr und Polizei außerhalb des Gefahrenbereichs erforderlich. So wird verhindert, dass Einsatzkräfte die Gefahrenzone vorschnell befahren oder betreten und dabei sich selbst oder nachrückende Kräfte gefährden.
Lageerkundung und Ersteinschätzung
- Gefahrenbeurteilung: Analyse möglicher Risiken an der Einsatzstelle
- Abschätzen der Zahl der Betroffenen: Zu diesem Zeitpunkt erfolgt noch keine Differenzierung nach Sichtungskategorien (rot/gelb/grün). Eine grobe Einteilung kann lediglich zwischen leicht Betroffenen (stehend, gehend, sitzend) und schwer Verletzten (liegend, eingeschlossen, eingeklemmt) vorgenommen werden, um eine Gesamtzahl zu ermitteln
- Allgemeines Lagebild: Abgleich, ob sich die Meldung der Leitstelle
mit der tatsächlichen Situation vor Ort bestätigt
AchtungSobald die Lageerkundung abgeschlossen ist, gibt das erste Rettungsmittel eine qualifizierte Lagemeldung an die Leitstelle
. Dafür kann das MELDEN-Schema als strukturierte Orientierung genutzt werden. MELDEN-Schema
M - Meldende Person
E - Einsatzstelle
L - Lage
D - Durchgeführte Maßnahmen
E - Einheiten, die eingesetzt wurden
N - Nachforderung
Vorsichtung der Verletzten
Vorsichtung nach Algorithmus, z.B. PRIOR durchführen
MerkeZiel aller Systeme ist es, rasch diejenigen Patient:innen zu identifizieren, die die höchste Behandlungs- und Transportpriorität haben.
Ziele im Detail:
- Schnellstmögliche Identifizierung vital bedrohter Patient:innen
- Durchführung lebensrettender Sofortmaßnahmen (LSM)
- Festlegung der Transportpriorität und der zuständigen Behandlungseinheit
Bedarfsgerechte Nachalarmierung
Nach Abschluss der Vorsichtung kann auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse eine bedarfsgerechte Nachalarmierung erfolgen.
Die „Drei-zwei-eins-Regel“ dient als einfache Orientierungshilfe zur Abschätzung des Mindestbedarfs an Einsatzkräften bei einem Massenanfall von Verletzten und Erkrankten (MANV), beispielsweise für die Erstversorgung von 10 Patient:innen (s.u.).
Da sich die medizinische Versorgung in der Frühphase eines MANV nicht am individualmedizinischen Standard orientiert, liegt der Fokus ausschließlich auf den lebensrettenden Sofortmaßnahmen, insbesondere bei Patient:innen der Sichtungskategorie I (rot).
Verteilung von Patient:innen bei MANV:
Erfahrungen aus realen Einsätzen, Übungen und Fachdiskussionen zeigen, dass sich die Patient:innenverteilung bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) typischerweise wie folgt darstellt:
- ca. 20 % SK I (rot): akut lebensbedrohlich verletzt oder erkrankt
- ca. 30 % SK II (gelb): schwer verletzt oder erkrankt, jedoch ohne unmittelbare Lebensgefahr
- ca. 50 % SK III (grün): leicht verletzt oder erkrankt
TippDiese Aufteilung dient als praxisnahe Planungsgrundlage für die Einschätzung des Personal- und Ressourcenbedarfs in der Frühphase eines MANV.
Minimalbedarf an Einsatzkräften und Fahrzeugen:
Aus der obigen Verteilung ergibt sich folgender Minimalbedarf an Einsatzkräften und Fahrzeugen für die Erstversorgung:
Zur Orientierung
- Ein Patient der Kategorie I benötigt eine Einsatzkraft eines RTW, inklusive des Materials
- Ein Notarzt (NEF) kann zwei Patient:innen der Kategorie I gleichzeitig initial versorgen
- Ein Patient der Kategorie II benötigt ebenfalls eine Einsatzkraft eines RTW
- Zwei Patient:innen der Kategorie III können durch eine Einsatzkraft eines KTW versorgt werden
| Bedarf der Einsatzkräfte | ||||
|---|---|---|---|---|
| Sichtungsergebnis | Definition | RTW | Notarzt | KTW |
| 1 Patient SK I | Akut lebensbedrohlich verletzter oder erkrankter Patient | 0,5 | 0,5 | - |
| 1 Patient SK II | Schwer verletzter bzw. erkrankter Patient | 0,5 | - | - |
| 1 Patient SK III | Leicht verletzter Patient | - | - | 0,25 |
MerkeMindestbedarf nach der „Drei–zwei–eins-Regel“
Daraus ergibt sich für die Erstversorgung von 10 Patient:innen ein Mindestbedarf von:
- 3 RTW
- 2 NEF
- 1 KTW
TippAndere Einheiten, z.B. Feuerwehrkräfte mit rettungsdienstlicher Qualifikation oder Sanitätsdiensteinheiten, können diesen Bedarf ergänzen oder teilweise ersetzen.
Raumordnung herstellen
Eine klare Raumordnung an der Einsatzstelle ist ein weiterer wichtiger Bestandteil. Da in kurzer Zeit mit dem Eintreffen weiterer Einsatzfahrzeuge zu rechnen ist, muss frühzeitig eine strukturierte Park- und Bewegungsordnung geschaffen werden. Dazu gehören die Festlegung von An- und Abfahrtswegen für nachrückende Einsatzkräfte und Abtransporte sowie gegebenenfalls die Einrichtung von Hubschrauberlandeplätzen.
Über die Leitstelle
Patientenablage:
Die erste Patientenablage sollte möglichst frühzeitig eingerichtet werden, um Struktur in das Einsatzgeschehen zu bringen und eine geordnete Versorgung zu ermöglichen. So wird gewährleistet, dass schnell ein zentraler Sammel- und Übergabepunkt für Patient:innen entsteht, an dem weitere Kräfte gezielt eingesetzt werden können.
AchtungPrioritäten richtig setzen
- Wenn es die personelle Situation zulässt, kann die Einrichtung durch ein Besatzungsmitglied des ersteintreffenden Rettungsmittels erfolgen
- Ist dies aufgrund anderer Prioritäten (z.B. Lageerkundung, Lagemeldung, Vorsichtung) nicht möglich, übernimmt diese Aufgabe beispielsweise das zweiteintreffende Rettungsmittel
Beispiel einer Patientenablage:
MerkeZusammenfassung: Einsatztaktische Maßnahmen des ersteintreffenden Rettungsmittels:
- Kommissarische Übernahme der Einsatzabschnittsleitung Gesundheit (komm. OrgL)
- Erkundung der Einsatzstelle (inkl. Sichtung und Lagebewertung)
- Erstmeldung („Lage auf Sicht“) an die Leitstelle
und Nachforderung weiterer Kräfte - Erfassen der Anzahl exponierter Personen (Patient:innen, Betroffene)
- Qualifizierte Lagemeldung an die Leitstelle
- Ggf. Vorsichtung und Kennzeichnung der Verletzten
- Einweisung nachrückender Rettungsdiensteinheiten in die Lage
- Bildung von Unterabschnitten, z.B. Patientenablage
- Aufbau einer Führungsstruktur entsprechend der Lage
- Strukturierte Übergabe
an die Einsatzabschnittsleitung Gesundheit
Übergabe an LNA und OrgL
Nach dem Eintreffen von LNA (Leitender Notarzt) und OrgL (Organisatorischer Leiter Rettungsdienst) erfolgt die strukturierte Übergabe
Dabei werden die bisher getroffenen Maßnahmen, die aktuelle Lageeinschätzung sowie die vorhandenen Strukturen (z.B. Patientenablage, Sichtung, Raumordnung) kurz und präzise übermittelt.
Im Anschluss kann die Besatzung, je nach Bedarf und Anweisung der Einsatzleitung mit folgenden Aufgaben betraut werden:
- Führungsassistenz im Einsatzabschnitt „Medizinische Rettung“
- Betreuung und Versorgung von Patient:innen
Prüfungswissen
Grundlagen:
DefinitionMANV und Großschadensereignis
Ein MANV liegt vor, wenn mehr Verletzte oder Erkrankte betroffen sind, als die regulären Rettungsdienstkräfte versorgen können. Zu Beginn besteht ein Mangel an Personal und Material. Hinzu kommt eine hohe organisatorische Komplexität.
→ Ziel ist es, die individualmedizinische Versorgung so schnell wie möglich wieder sicherzustellen.
Die Definition eines MANV hängt von den örtlichen Strukturen des Rettungsdienstes und der Kliniken ab und variiert daher regional. In vielen Regionen gilt bereits eine Zahl von mehr als fünf Verletzten als Massenanfall.
Ein Großschadensereignis liegt vor, wenn erhebliche Sachschäden entstehen. Dies kann zusätzlich zu einem MANV auftreten, muss aber nicht.
- Mögliche Szenarien:
- Massenkarambolagen oder Zugunglücke: vor allem Verletzte, oft über eine größere Fläche verteilt
- Naturereignisse (z.B. Stürme, Erdbeben): Verletzte an verschiedenen Orten
- Großbrände: Industriebrände, Brände in Gebäuden mit hoher Personenzahl (Wohnanlagen, Einkaufszentren) oder Waldbrände
- Großveranstaltungen (z.B. Public Viewing, Konzerte, Sportevents): Gefahr von Massenpaniken, viele unverletzte Personen erschweren die Übersicht
- Infektionen oder Lebensmittelvergiftungen (z.B. in Pflegeheimen, Hotels, auf Schiffen): viele Erkrankte in kurzer Zeit
- Amok- oder Terrorlagen: Verletzungen durch den Angriff selbst und durch mögliche Massenpaniken danach
MerkeHerausforderungen bei MANV
Ziel ist es, rasch wieder eine adäquate individualmedizinische Versorgung für alle Patient:innen zu ermöglichen.
- Anfangs müssen fehlende Kräfte und Material durch überregionale Unterstützung ausgeglichen und die Lage geordnet werden
- Anschließend gilt es, die vielen Einsatzkräfte und Organisationen effektiv zu koordinieren
Rahmen-, Alarm- und Einsatzplan (RAEP) Gesundheit:
DefinitionDer Rahmenalarm- und Einsatzplan (RAEP) Gesundheit legt die Strukturen und Abläufe zur medizinischen Primär- und Sekundärversorgung von verletzten oder anderweitig gesundheitlich geschädigten Personen fest. Zudem regelt er die Betreuung von Betroffenen eines Schadensereignisses, einschließlich Angehöriger und unverletzter Beteiligter.
- Alarm- und Einsatzpläne (AEP):
- Gemäß den Vorgaben des Landesgesetzes über den Brandschutz, die allgemeine Hilfe und den Katastrophenschutz (LBKG) sind die Gemeinden und Landkreise als Aufgabenträger verpflichtet, zur wirksamen Gefahrenabwehr Alarm- und Einsatzpläne (AEP) zu erstellen
- Auf Grundlage einer Gefahrenabwehr- und Bedarfsanalyse wird dabei im Detail folgendes festgelegt:
- Wie die präklinische gesundheitliche Versorgung und Betreuung von Verletzten, Erkrankten und Betroffenen organisiert wird
- Welche Abläufe, Strukturen und Ressourcen im Einsatzfall vorgesehen sind
- 5 Alarmstufen → abhängig von Schadensereignis
Führungs- und Organisationsstruktur:
- Führungspyramide = Hierarchie an der Einsatzstelle
- Kennzeichnungswesten zur klaren Erkennung
- Einsatzstelle in verschiedene Einsatzabschnitte gegliedert
- Einsatzabschnitt Medizinische Rettung:
- Leitung durch LNA und OrgL
- Unterabschnitte: Patientenablage, Behandlungsplatz, Transportorganisation
Merke
- Klare Führungsstruktur = Grundpfeiler für den Einsatzerfolg im MANV
- LNA + OrgL = Teamleitung des Abschnitts „Medizinische Rettung“
- Unterabschnitte (PA, BHP, TrOrg) machen die Arbeit vor Ort handhabbar
Sichtungsprozess:
- Sichtungskategorien:
| Bezeichnung | Farbe | Beschreibung | Konsequenz | |
|---|---|---|---|---|
| Sichtungskategorie | SK I | Rot | Vitale Bedrohung | Sofortbehandlung |
| SK II | Gelb | Schwere Verletzung / Erkrankung | Dringliche Behandlung | |
| SK III | Grün | Leichte Verletzung / Erkrankung | Nicht dringliche Behandlung | |
| SK IV | Blau | Ohne Chance auf Überleben | Palliative Versorgung | |
| Kennzeichnung | EX | Schwarz | Tote | Keine Maßnahmen |
| B | Weiß | Betroffene | Betreuung | |
| Zusatzkennzeichnung | TP | Transportpriorität | Prioritärer Transport | |
| K | Kontanimation | Schutzmaßnahmen / Dekontamination |
Aufgaben des ersteintreffendes Rettungsmittel:
MerkeZusammenfassung: Einsatztaktische Maßnahmen des ersteintreffenden Rettungsmittels:
- Kommissarische Übernahme der Einsatzabschnittsleitung Gesundheit (komm. OrgL)
- Erkundung der Einsatzstelle (inkl. Sichtung und Lagebewertung)
- Erstmeldung („Lage auf Sicht“) an die Leitstelle
und Nachforderung weiterer Kräfte - Erfassen der Anzahl exponierter Personen (Patient:innen, Betroffene)
- Qualifizierte Lagemeldung an die Leitstelle
- Ggf. Vorsichtung und Kennzeichnung der Verletzten
- Einweisung nachrückender Rettungsdiensteinheiten in die Lage
- Bildung von Unterabschnitten, z.B. Patientenablage
- Aufbau einer Führungsstruktur entsprechend der Lage
- Strukturierte Übergabe
an die Einsatzabschnittsleitung Gesundheit
Quellen
- S2k-Leitlinie: Katastrophenmedizinische prähospitale Behandlungsleitlinien, Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI)
- Marten D, Lechleuthner A. LNA und OrgL: Führung im Großschadensfall. Notfallmedizin up2date 2012; 7(04): 271 - 283. doi:10.1055/s-0032-1315028
- Schmöller G, Pfleger H, Poloczek S. Ein Ereignis - viele Verletzte - Wie Sie beim MANV richtig handeln. retten! 2013; 2(02): 98 - 105. doi:10.1055/s-0033-1345598
- Trümpler S, Hübner M, Bohn A. Massenanfall von Verletzten/Erkrankten (MANV) – die frühe Phase der Einsatzbewältigung. Notfallmedizin up2date 2018; 13(01): 39 - 51. doi:10.1055/s-0043-119741
- Koch, S., Kuhnke, R., retten - Notfallsanitäter, Thieme, 2023, ISBN: 978-3132421219
- Portal für den Brand und Katastrophenschutz Rheinland-Pfalz: RAEP Gesundheit, Stand: 09.2013 (Zugriff am 05.10.2025)









