Zusammenfassung
Das Nephroblastom, auch Wilms-Tumor genannt, ist ein maligner Nierentumor, der vor allem bei Kindern im Alter von 2 bis 5 Jahren auftritt und der häufigste Nierentumor im Kindesalter ist. Es zeigt eine höhere Prävalenz bei Mädchen und ist oft mit genetischen Syndromen wie dem WAGR-Syndrom assoziiert.
Klinisch äußert sich das Nephroblastom meist durch eine schmerzlose Bauchschwellung mit Völlegefühl und ggf. Zunahme des Bauchumfangs. In fortgeschrittenen Stadien können Bauchschmerzen, Hämaturie und gelegentlich arterielle Hypertonie
Zur Diagnosesicherung genügt i.d.R. eine Nierensonografie
Die Therapie umfasst i.d.R. eine neoadjuvante Chemotherapie, die chirurgische Entfernung des Tumors sowie eine adjuvante Chemotherapie oder alternativ Strahlentherapie.
Die Prognose ist insgesamt günstig, mit einer 5-Jahres-Überlebensrate von etwa 90% nach Tumorentfernung.
DefinitionDas Nephroblastom (Wilms-Tumor), ist ein maligner, embryonaler Mischtumor der Niere, ausgehend von metanephrogenen Blastemzellen (= Vorläuferzellen für die reife Niere aus dem intermediärem Mesoderm). Es bestetht charakteristischerweise zu variablen Anteilen aus Blastem, Epithel und Stroma.
Epidemiologie
- Häufigster Nierentumor im Kleinkindalter (~85% aller kindlichen Nierentumore), circa 5% aller malignen Tumore im Kindesalter
- Manifestation meist im 2.-5. Lebensjahr (typische Altersspanne: 6 Monate - 16 Jahre)
- Höhere Inzidenz bei Mädchen
Metastasierung
- Überwiegend lokal verdrängendes und/oder infiltratives Wachstum in umgebendes Gewebe und Gefäße (z.B. Vena cava oder Vena renalis
→ Ausbildung eines Tumorthrombus) - Selten hämatogene Metastasierung durch Tumoreinbruch in die Vena cava oder Vena renalis
, insbesondere in Lunge und lokale Lymphknoten, seltener in Leber , Knochen oder Gehirn
MerkeNur circa 15% der Nephroblastome sind bei Diagnosestellung bereits metastasiert.
Ursache
- Sporadisch oder hereditär
- Häufig durch Loss-of-function-Mutation der Wilms-Tumor-Suppressorgene WT1 und WT2 (= Gene zur Steuerung der Urogenitalentwicklung) aufgrund einer Deletion des p-Arms von Chromosom 11 (Del11p)
- Circa 10% assoziiert mit:
- Fehlbildungen, z.B.:
- Urogenitale Anomalien wie Hufeisennieren
- Augenfehlbildungen wie Aniridie
- ZNS-Fehlbildungen wie Neuralrohrdefekte
- Hemihypertrophie (= einseitiger Überwuchs des Körpers oder von Körperteilen)
- Hereditären Tumorsyndromen, z.B.:
- WAGR-Syndrom (Wilms-Tumor, Aniridie, Gonadoblastom, geistige Retardierung)
- Beckwith-Wiedemann-Syndrom (Exomphalos, Gigantismus, Makroglossie, Viszeromegalie, Nephroblastom)
- Denys-Drash-Syndrom (Nephroblastom, Hypospadie, Nephritis)
- Weitere: Neurofibromatose Typ 1, Li-Fraumeni-Syndrom
- Fehlbildungen, z.B.:
InfoRisikofaktor: Nephroblastomatose
Persistierende embryonale Gewebe- oder Zellstrukturen (sog. nephrogene Reste), die während der Nierenentwicklung entstehen, aber nicht vollständig differenzieren oder zurückgebildet werden, stellen die häufigsten Vorläuferläsionen für Nephroblastome dar und sollten daher sonografisch überwacht werden. In manchen Fällen kann eine prophylaktische Entfernung sinnvoll sein.
Klassifikation
SIOP-Stadien1
Stadium | Ausbreitung | |
---|---|---|
I | Befall einer Niere |
|
II |
| |
III | Tumordurchbruch durch die Nierenkapsel
| |
IV |
| |
V | Befall beider Nieren |
|
1SIOP = International Society of Paediatric Oncology
Pathologie
Makroskopische Merkmale

Abepathology, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons
- I.d.R. 5-15 cm groß (teilweise auch >20 cm, bis zu 500 g schwer)
- Weicher Tumor mit Pseudokapsel
- Grau-bräunliche Schnittfläche, ggf. Einblutungen und zystische Nekrosen
Mikroskopische Merkmale
- Mischtumor mit typischem triphasischen Aufbau
- Stromale Komponente: zellarmes, myxoid-fibröses Bindegewebe
- Epitheliale Komponente: Nephron-ähnliche Formationen (= unreife glomeruläre und tubuläre Strukturen)
- Blastematöse Komponente: undifferenziertes, unreifes embryonales Gewebe → Small-blue-round-cell-Tumor

Mikael Häggström, M.D. Author info - Reusing images- Conflicts of interest: NoneMikael Häggström, M.D.Consent note: Consent from the patient or patient's relatives is regarded as redundant, because of absence of identifiable features (List of HIPAA identifiers) in the media and case information (See also HIPAA case reports guidance)., CC0, via Wikimedia Commons
InfoGruppe der Small-blue-round-cell-Tumoren (SBRCT)
Synonym: Small-round-cell-Tumoren (SCRT)
Gemeinsame Merkmale:
- Kleine, runde, wenig differenzierte, zytoplasmaarme Zellen mit hyperchromatischem Kern, die in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung eine blaue Färbung annehmen
- Vorkommen häufig im Kindes- oder Jugendalter
Wichtige Beispiele:
- Blastome: Nephroblastom (Wilms-Tumor), Neuroblastom, Medulloblastom, Retinoblastom
- Sarkome: Ewing-Sarkom oder primitive neuroektodermale Tumoren (PNET), alveoläres Rhabdomyosarkom
- Karzinome: kleinzelliges Lungenkarzinom
, Merkelzellkarzinom - Lymphome: Burkitt-Lymphom
- Keimzelltumore
: Seminom , Dysgerminom - Andere Tumorarten: desmoplastischer kleinzelliger Tumor, Rhabdoidtumor des Kindesalters
Histologische Einteilung
Abhängig vom Differenzierungsgrad (Malignität) werden Nephroblastome unterteilt in: Low risk, Intermediate risk, High risk
MerkeDie meisten Nephroblastome (~80%) werden als "intermediate risk" (= moderate Malignität) -Tumore eingestuft.
Klinik
- Schmerzlose abdominelle Vorwölbung bedingt durch das Größenwachstum des Tumors
- Völlegefühl
- Ggf. Zunahme des Bauchumfangs
- B-Symptome
: Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust, Fieber , Nachtschweiß - Gelegentlich schmerzlose Makrohämaturie
, Wachstumsstillstand bei Kindern - In fortgeschrittenen Stadien:
- Mit Tumorvenenthrombose:
- Vena cava → bilaterale Beinschwellung, Thrombose-Zeichen an den Unterschenkeln (Rötung, Schwellung, Überwärmung, Schmerzen)
- Vena renalis
→ renal-bedingte arterielle Hypertonie
- Mit Verdrängung oder Kompression umliegender Organe:
- Gefäßkompression → Akutes Abdomen
- Darmobstruktion → gastrointestinale Symptome (Übelkeit, Erbrechen), Obstipation
- Mechanische Beeinträchtigung des Diaphragmas → gestörte Atemmechanik (Dyspnoe
)
- Gefäßkompression → Akutes Abdomen
- Mit Tumorvenenthrombose:
AchtungCirca 10% der Nephroblastome sind asymptomatisch und werden nur als Zufallsbefund in der Bildgebung diagnostiziert!
InfoEine schmerzlose Makrohämaturie
tritt beim Nephroblastom deutlich seltener auf als beim Nierenzellkarzinom bei Erwachsenen und ist daher kein Leitsymptom des Nephroblastoms!
Diagnostik
Anamnese
- Symptome: Zunahme des Bauchumfangs, blutiger Urin, Gewichtsabnahme, nächtliches Schwitzen, Fieber
, Wachstumsstillstand - Vorerkrankungen: Fehlbildungen (z.B. Urogenitaltrakt, Augen, ZNS), vorbekannte Nephroblastomatose
- Familienanamnese: Nephroblastome oder hereditäre Tumorsyndrome in der Verwandschaft
Körperliche Untersuchung
- Inspektion + ggf. vorsichtige (!) Palpation des Abdomens: tastbarer, ggf. sichtbarer Oberbauchtumor im Bereich der Flanken
Labor
- Serumparameter
- Retentionsparameter zur Beurteilung der Nierenfunktion (z.B. Kreatinin
, Harnstoff )
- Retentionsparameter zur Beurteilung der Nierenfunktion (z.B. Kreatinin
- Urindiagnostik
- U-Status: ggf. Makrohämaturie
- U-Status: ggf. Makrohämaturie
TippIm Gegensatz zum Neuroblastom (siehe Differentialdiagnosen) sind beim Nephroblastom keine Katecholaminmetabolite im 24-Std-Urin oder Serum
nachweisbar.
Bildgebung
- Sonografie der Nieren
: - Inhomogene, echoreiche Raumforderung
(isoechogen zur Leber ) mit echoarmen, nekrotischen Bereichen - Häufig umgeben von echoreicher Pseudokapsel
- Ggf. zapfenartige Gefäßinfiltration
- Inhomogene, echoreiche Raumforderung
- MRT-Abdomen mit Kontrastmittel: Beurteilung der lokalen Tumorausbreitung und des Lymphknotenbefalls
- Alternativ: CT
-Abdomen mit Kontrastmittel
- Alternativ: CT
- CT
-Thorax : Ausschluss von Lungenmetastasen
AchtungCirca 3-4% der Nephroblastome treten bilateral auf. Bei Verdacht auf ein Nephroblastom ist daher eine sonografische Untersuchung der kontralateralen Niere obligat!
MerkeDas Nephroblastom stellt sich in der Bildgebung i.d.R. sehr eindeutig dar, sodass eine Biopsie vermieden werden kann.

Figure out Anand R, Narula MK, Gupta I, Chaudhary V, Choudhury SR, Jain M. Imaging spectrum of primary malignant renal neoplasms in children. Indian J Med Paediatr Oncol. 2012 Oct;33(4):242-9. doi: 10.4103/0971-5851.107107. PMID: 23580829; PMCID: PMC3618650. Es wurden zwei Bilder (Sonografie-Befund und MRT-Befund) aus der Quelle zusammengefügt und jeweils rote Pfeile hinzugefügt.
Biopsie
- Indikation: intraoperativer Schnellschnitt oder postoperativ, primär nur bei unklarer Bildgebung (selten)
AchtungAufgrund einer hohen Rupturgefahr und dem durch eine Ruptur entstehenden Risiko der peritonealen Tumoraussaat sollte beim Nephroblastom
- Nur sehr vorsichtig palpiert werden
- Bei typischem Alter und einem eindeutigen Befund in der Bildgebung keine Biopsie durchgeführt werden
- Der Tumor nur En-Bloc resiziert werden
Differentialdiagnosen (Auswahl)
Neuroblastom
- Maligner Tumor im Säuglings-/Kleinkindalter (Manifestation v.a. im 1.-2. Lebensjahr) ausgehend von neuroektodermalen Neuroblasten des sympathischen Nervensystems, mit Manifestation insbesondere im Bereich der Nebennieren
und entlang der Wirbelsäule - Häufigere Metastasierung (insbesondere in die Knochen), circa 50% sind zum Diagnosezeitpunkt bereits metastasiert
- Klinik (im Unterschied zum Nephroblastom):
- Symptome durch erhöhte Katecholaminsynthese in Tumorzellen → z.B. arterielle Hypertonie
, Tachykardie und vermehrtem Schwitzen - In schweren Fällen neurologische Symptome wie Horner-Syndrom oder Querschnittssymptomatik
- Symptome durch erhöhte Katecholaminsynthese in Tumorzellen → z.B. arterielle Hypertonie
- Diagnostik:
- Nachweis von Katecholaminmetaboliten (Vanillinmandelsäure
, Homovanillinsäure) im Serum und 24-Std-Urin - MIBG-Szintigrafie positiv: Aufnahme von Metaiodbenzylguanin (MIBG) in adrenerge Gewebe↑
- Mikroskopische Merkmale: Pseudorosetten, katecholaminhaltige Granula, Neuronenspezifische Enolase
(NSE )↑, Small-Blue-Round-Cell-Tumor
- Nachweis von Katecholaminmetaboliten (Vanillinmandelsäure
- Variable Prognose
- Bei Säuglingen ist auch im metastasierten Stadium eine Spontanremission möglich
- Schlechtere Prognose bei höherem Alter und/oder Vorhandensein einer N-Myc-Amplifikation
Weitere Differentialdiagnosen
- Renale Befunde:
- Neoplastisch:
- Urothelkarzinom des Nierenbeckens
- Renales Lymphom
- Metastasen - z.B. bei Bronchialkarzinom
- Nephroblastomatose (= nephrogene Reste, siehe oben → Ursache)
- Urothelkarzinom des Nierenbeckens
- Nicht-neoplastisch:
- Nierenzysten
- Nierensteine
- Hämatome
oder Abszesse der Niere - Urogenitaltuberkulose
- Neoplastisch:
- Allgemein histologische Befunde: andere Small-blue-round-cell-Tumoren (siehe oben → Pathologie)
Therapie
- 4-6 Wochen neoadjuvante Chemotherapie mit Vincristin
und Actinomycin D + radikale Nephrektomie + ggf. adjuvante Chemotherapie (abhängig von Histologie, Tumorstadium und Tumorgröße) - In fortgeschrittenen Stadien (≥ Stadium 3) +/ bei unvollständiger Resektion (R1 oder R2): zusätzlicher Einsatz von Doxorubicin in der Chemotherapie und zusätzlich adjuvante Radiatio
InfoBei bilateralem Befall wird anstelle einer Nephrektomie eine nierenerhaltende En-Bloc-Tumorresektion durchgeführt.
AchtungIm Anschluss an die Therapie ist eine engmaschige Tumornachsorge mit regelmäßigen sonografischen Kontrollen notwendig, um seltene Rezidive frühzeitig zu erkennen!
Das Rezidivrisko kann bei Verdacht auf ein hereditäres Tumorsyndrom (z.B. WAGR-Syndrom) mittels genetischer Untersuchungen eingeschätzt werden. Weiterhin wird die genetische Untersuchung des WT1- Keimbahnstatus empfohlen.
Komplikationen
- Metastasierung, insbesondere in die Lunge
- Peritonealkarzinose: z.B. durch Ruptur mit peritonealer Tumoraussaat
- Tumorvenenthrombose: Rückstau des Blutes in die Beine durch
- Tumoreinbruch in die Vena cava mit Tumorvenenthrombose und dem Rückstau des Blutes in die Beine
- Mechanische Kompression der Vena cava
- Renal-bedingte arterielle Hypertonie
: Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron -Systems (RAAS ) aufgrund einer verminderten Nierenperfusion durch - Tumoreinbruch in die Vena renalis
mit Tumorvenenthrombose und dem Rückstau des Blutes in die zugehörige Niere - Mechanischen Kompression der Nierengefäße (arteriell und/oder venös) bei wachsender Raumforderung
- Tumoreinbruch in die Vena renalis
- Sekundäre Nierenfunktionsstörungen bis hin zur chronischen Nierenerkrankung (CKD
): durch Nierenkompression und Perfusionsstörung - Ateminsuffizienz: durch eine mechanische Behinderung des Diaphragmas bei sehr großer Raumforderung
und Größenwachstum nach kranial - Darmobstruktion: durch eine mechanische Kompression des Darms
- Akutes Abdomen
: durch Kompression z.B. mesenterialer Gefäße mit konsekutiver Ischämie in Versorgungsgebieten
Prognose
- Ohne Therapie: hohe Letalität
- Nach kompletter Resektion: >90 % vollständige Heilung, selten Rezidive (meist in den ersten zwei Jahren)
Prävention
- Regelmäßige sonografische Kontrollen bei nachgewiesenen Fehlbildungen oder hereditären Tumorsyndromen (z.B. WAGR-Syndrom) mit erhöhtem Nephroblastom-Risiko
- Genetische Beratung und individuelle Überwachungsstrategie (z.B. regelmäßige sonografische Kontrollen) für Angehörige von Familienmitgliedern mit hereditären Nephroblastomen oder hereditären Tumorsyndromen
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Quellen
- S1-Leitlinie Nephroblastom (Wilms-Tumor), Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH)