Zusammenfassung
MerkeUm alle möglichen Differentialdiagnosen bei der Versorgung von Notfallpatient:innen zu berücksichtigen, solltest du immer nach einer gleichen Struktur vorgehen
Wenn du mit Notfallpatient:innen in der Präklinik zu tun hast, solltest du immer nach dem gleichen Schema vorgehen - so vergisst du zum einen nichts und zum anderen sprechen alle Kolleg:innen eine gemeinsame Sprache.
Vorgehen
- Ersteinschätzung:
- Szenerie und Sicherheitsaspekte: Beurteilung der Umgebung und der Sicherheitslage.
- Ressourcenbewertung: Überprüfen, ob ausreichende Ressourcen vorhanden sind oder ob weitere Fach- oder Spezialkräfte benötigt werden.
- Bewusste Wahrnehmung: Erste Eindrücke beim Kontakt mit der erkrankten Person bewusst wahrnehmen.
- Zustandsbeurteilung und Behandlung:
- Lebensbedrohliche Zustände: Sofortige Versorgung und Behandlung lebensbedrohlicher Zustände.
- xABCDE-Schema: Anwenden des Schemas zur strukturierten Beurteilung und Behandlung.
- Leitsymptom erfragen:
- Fragetechnik:
- Was ist aktuell ihr größtes Problem?
- Weshalb haben Sie den Notruf kontaktiert?
- Welche Beschwerden stehen aktuell im Vordergrund?
- Mögliche Antworten:
- Starke Bauchschmerzen
- Atemnot
- Brustschmerzen
- Bewusstlosigkeit
- Schwindel
- Herzrasen
- Fragetechnik:
- Differentialdiagnosen sammeln:
- Frage: Welche Krankheiten und Verletzungen können zu diesem Symptom führen?
- Anamnese und Untersuchungen:
- Anamnese durchführen: Systematische Erfassung der Krankengeschichte
- Fokussierte Untersuchung: Untersuchungen im Bezug auf das Leitsymptom durchführen
- Messwerte erheben: Vitalparameter und andere relevante Werte messen
- Bewertung der Differentialdiagnosen und Arbeitsdiagnose
- Ausschluss von Erkrankungen: Durch Anamnese und Untersuchungen Krankheiten ausschließen
- Erhärtung von Verdachtsdiagnosen: Bestätigen von Verdachtsdiagnosen durch Untersuchungsergebnisse
- Ermittlung der Arbeitsdiagnose: Bestimmung der wahrscheinlichsten Diagnose.
- Zustandsbeurteilung: Kritisch krank, ernsthaft krank, unkritisch
- Weitere Behandlung und Zielklinik:
- Behandlung einleiten: Maßnahmen basierend auf der Arbeitsdiagnose
- Zielklinik auswählen: Bestimmung der geeigneten Klinik für die weitere Behandlung
Durchführung einer Ersteinschätzung
Die Ersteinschätzung der Situation nimmt einen zentralen Stellenwert in der strukturierten sowie differentialdiagnostischen Versorgung und Behandlung von Notfallpatient:innen ein. Die Ersteinschätzung ist eines der wichtigsten Elemente dieser Struktur.
Bereits vor dem Eintreffen am Einsatzort erhalten wir durch den Notruf einige Informationen, die uns helfen, uns auf die Situation vor Ort vorzubereiten. Stelle dir schon auf der Fahrt zum Einsatzort folgende Fragen:
#Scene
Welche Art von Einsatzstelle, welche Szenerie erwartet mich vor Ort?
Beim Einsatz in einem Industriebetrieb sind andere, spezifische Gefahren und Einsatzbedingungen zu beachten als z.B. in einem Ein- oder Mehrfamilienhaus. Auch das Stockwerk, in dem sich die erkrankte Person befindet, spielt für dich eine entscheidende Rolle. Außerdem musst du je nach Einsatzart das Wetter, die Tageszeit und ggf. die Außentemperatur in deine weiteren Überlegungen mit einbeziehen.
#Safety
Könnte ich durch den Einsatz besonderen Gefahren ausgesetzt sein?
Egal zu welchem Einsatz du gerufen wirst, deine Sicherheit hat immer höchste Priorität. Denke immer daran, dass du anderen Menschen nur helfen kannst, wenn du gesund bist. Vor und beim Betreten des Einsatzortes musst du immer auf eine mögliche Kontamination mit Krankheitserregern und Gefahrstoffen achten. Außerdem kommt es immer häufiger vor, dass wir auf aggressive Personen treffen oder Einsatzstellen im fließenden Verkehr nicht ausreichend abgesichert sind.
#Situation
Welche Umstände sind vor Ort zu erwarten, wie wird sich die erkrankte Person präsentieren?
Überlege, wie viele Patient:innen betroffen sein werden. Überlege, welche Erkrankungen und Verletzungen zu erwarten sind. In welchem Zustand wird sich die erkrankte Person wahrscheinlich befinden?
#Support
Wurden weitere Fach- oder Spezialkräfte mit mir alarmiert oder muss ich daran denken, diese frühzeitig nachzufordern?
Überlege dir an dieser Stelle, ob du die Situation alleine bewältigen kannst oder ob du weitere Fachkräfte oder gar Spezialisten benötigst, um die erkrankte Person adäquat zu versorgen und sicher in ein geeignetes Krankenhaus zu transportieren.
Erster Eindruck
Wenn man Menschen zum ersten Mal begegnet, macht man sich sehr schnell ein erstes Bild von seinem Gegenüber. Das gilt nicht nur im privaten, sondern auch im beruflichen Umfeld. Wenn du einem kranken Menschen begegnest, bekommst du auch sehr schnell einen ersten Eindruck. Oft geschieht dies im Unterbewusstsein. Wenn du diese Informationen jedoch bewusst wahrnimmst, mit deinem Team kommunizierst und anschließend auswertest, stellst du die Weichen für das weitere Vorgehen in der Notfallsituation. Folgende Eindrücke kannst du unmittelbar beim Erstkontakt gewinnen:
- Bewusstseinszustand der erkrankten Person
- Vorhandensein einer spontanen Atmung
- Körperspannung der erkrankten Person
- Hautbeschaffenheit der erkrankten Person
- Umfeld der erkrankten Person
- Gerüche und Geräusche in der Patient:innenumgebung
Nachdem der Ersteindruck verarbeitet, kommuniziert und bewertet wurde, sollte eine Erstuntersuchung mit Hilfe des xABCDE-Schemas durchgeführt werden. Das xABCDE-Schema ist letztlich eine Methode zur strukturierten Untersuchung und Behandlung von Notfallpatient:innen. Es dient dazu, schnell eine grobe Einschätzung des Zustandes der erkrankten Person vorzunehmen und lebensbedrohliche Situationen zu erkennen. Der Kern des Schemas besteht aus folgenden 6 Schritten:
xABCDE-Schema
- xABCDE-Schema: Nicht nur zur Ersteinschätzung, sondern auch zur kontinuierlichen Überwachung nutzen:
- Reassessment: Regelmäßige Beurteilung des Patient:innen zur Anpassung der Behandlung und frühzeitigen Erkennung von Komplikationen.
- Kontinuierlicher Prozess: Durchführung während der gesamten Versorgung, besonders nach Behandlungen oder bei Zustandsänderungen
- Vergleichbarkeit: Konsistente Anwendung des xABCDE-Schemas ermöglicht Zustandsvergleiche über die Zeit
AchtungNach der Ersteinschätzung ist eine Entscheidung fällig: Anhand der Informationen aus deiner Ersteinschätzung solltest du nun beurteilen, ob die Person kritisch oder unkritisch erkrankt ist. Dies bestimmt das weitere Vorgehen: Bei kritischen Patient:innen solltest du immer den Faktor Zeit berücksichtigen!
Weiterführenden Anamnese
- Bedeutung der Anamnese:
- Zentraler Schritt in der präklinischen Versorgung
- Sammlung von Informationen (z.B. über Zustand, Vorgeschichte und Ursachen)
- Durchführung:
- Befragung der zu behandelnden Person.
- Offene und unterstützende Atmosphäre schaffen.
- Vertrauen gewinnen und genaue Informationen erhalten.
- Wichtige Fragen:
- Aktuelle Symptome, Schmerzen, Vorerkrankungen
- Allergien, Medikamenteneinnahme, andere relevante Aspekte
- Herausforderungen:
- Begrenzte Zeit im präklinischen Bereich
- Schnelle Analyse und Priorisierung relevanter Informationen
- Unterschiedliche Schmerzempfindungen und Kommunikationsweisen der Patient:innen
- Patient:innen erinnern sich nicht immer genau oder lügen ggf. aus Scham
Fremdanamnese:
- Informationen von Begleitpersonen oder Beobachtern sammeln
- Einblicke in Unfallmechanismus oder medizinischen Zustand
- Ergänzung zur Eigenanamnese
Tipp
Verwendung von Schemata und Akronymen helfen alle Punkte strukturiert abzufragen!
SAMPLER-Schema
- Das wohl bekannteste Akronym für eine genaue und umfassende Anamneseerhebung ist das SAMPLER-Schema. Wundere dich nicht, in manchen Büchern wirst du das SAMPLERS-Schema finden, wobei das letzte "S" für Schwangerschaft steht, die wir bereits unter den Buchstaben "P", "L" und "R" behandelt haben
- Mit Hilfe dieses Schemas lassen sich bei fast jedem wachen und orientierten Patient:innen systematisch Informationen zur Krankengeschichte erfassen und mögliche Ursachen für aktuelle Beschwerden identifizieren
OPQRST-Schema
Insbesondere bei Schmerzzuständen garantiert das SAMPLER-Schema keine vollständige und umfassende Anamnese bei (Notfall-)Patient:innen. Daher solltest du bei Schmerzen immer zusätzlich das OPQRST-Schema anwenden. Betrachte es einfach als Ergänzung zum Punkt "Symptome" im SAMPLER-Schema. Aber auch bei Patient:innen, die nicht über Schmerzen klagen, kann dir dieses Schema (teilweise) helfen, mehr über die Symptome der Patient:innen zu erfahren.
Fokussierte Untersuchung
- Begrenzungen in der Präklinik:
- Keine umfangreiche Labordiagnostik
- Keine erweiterte Diagnostik durch technischen Geräte wie CT oder MRT
- Systematisches Vorgehen:
- Untersuchungsergebnisse strukturiert beurteilen
- Nutzung des IPPAF-Schemas (Inspektion, Auskultation, Perkussion, Palpation Funktionsuntersuchung)
AchtungBei der Untersuchung des Abdomens muss die Auskultation vor der Palpation und Perkussion erfolgen, da ansonsten durch die mechanische Reizung verfälschte Darmgeräusche erzeugt werden können → IAPPF-Schemas!
IPPAF-Schema
Vitalparameter und Messwerte
Die Erhebung von Messwerten bei (Notfall-)Patient:innen hilft dir, die Ergebnisse deiner Ersteinschätzung (xABCDE) zu verifizieren. Außerdem können dir die Messwerte bei der Beurteilung möglicher Differentialdiagnosen helfen. Wichtig ist jedoch, dass du die Messwerte nicht nur erhebst, sondern auch sofort beurteilst. Stelle dir grundsätzlich die Frage, ob der Messwert zu deiner ersten Einschätzung passt. Wenn nicht, überprüfe zeitnah, ob sich der Zustand des Patienten verändert hat und ob deine Messmethode richtig war.
Folgende Messwerte helfen dir bei der differentialdiagnostischen Abklärung in der Präklinik:
Blutdruck
- Normwert: 120-100/80-60
- Hypertonie: RR >140/100
- Hypertensiver Notfall: RR >220/120 + Anzeichen von Organschäden
- Hypotonie: RR <100/60
Pulsfrequenz
- Normwert: 60-80
- Tachykardie: Puls >100
- Bradykardie: Puls <60
Elektrokardiogramm
- Physiologisch: normofrequenter Sinusrhythmus
- Spezielle EKG-Bilder: Auf Erkrankungen deutende Muster werden in spezifischen Skripten gezeigt.
Atemfrequenz
- Normwert: 12-15
- Tachypnoe: AF >20
- Bradypnoe: AF <10
Sauerstoffsättigung
- Normwert: SpO2 95-100%
- Hypoxie: SpO2 <90%
- CAVE: Wert immer abhängig von der Perfusion bewerten
Laktat*
- Normwert: 4.5 - 20 mg/dl
- Laktat-Anstieg: >20mg/dl
- *immer mehr Rettungsdienste führen ein Laktat-Messgerät mit
Blutzuckerspiegel
- Normwert: 70-120 mg/dl
- Hyperglykämie: BZ >200 mg/dl
- Hypoglykämie: BZ <60 mg/dl
Hämoglobin (Hb)
- Normwert:
- Männer: 13.5-17.5 mg/dl
- Frauen: 12-16 mg/dl
- Hb-Abfall:
- Männer: <13 mg/dl
- Frauen: <12 mg/dl
- Eine Erhöhung des Hämoglobinwertes besitzt keine präklinische Relevanz
Glasgow-Coma-Scale
- Normwert: 15 Punkte
- Leichte Bewusstseinsstörung: 14-12 Punkte
- Mittelschwere Bewusstseinsstörung: 11-9 Punkte
- Schwere Bewusstseinsstörung: 8-3 Punkte
Temperatur
- Normwert: 36,4 - 37.3 °C
- Hyperthermie: Temperatur >37.5 °C
- Hypothermie: Temperatur <35 °C